Während der Fall langsam ungeahnte Ausmaße annahm, überschlugen sich die Ereignisse. Der Kreis der Verdächtigen, Opfer und Täter wurde immer undurchsichtiger. Sarahs Scheune, vor der sie jetzt stand, in der sie und der Kommissar durch Zufall für den Fall anscheinend relevante Akten aus der deutschen Geschichte vom Krieg bis in die Stasizeit fanden, wurde von Benno, dem Sohn des Pfarrers, angezündet. Was für eine Katastrophe! Und während Frank Sarahs Nachbarin, die das Feuer löschen wollte, aus der Flammenhölle rettete, wurde ihr bewusst, dass er ihre Geschichte kennt.
Was hatte sie sich auch dämlich angestellt um ihre Vergangenheit zu verheimlichen. Fünfzehn Jahre im Polizeidienst kann man vor einem Kommissar halt nicht verbergen. Die Fragen die sie stellte, wie sie sie stellte, das persönliche Verhältnis ihrer Familie zum Polizeidirektor und schließlich ihr routinierter Umgang mit der Technik eines Einsatzwagens, all das musste auch der dümmsten Nuss aufstoßen. Und Frank war alles andere als dumm. Aber er behielt seine Erkenntnisse für sich. Er wollte sie nicht bedrängen.
Trotzdem fühlte sie sich gekränkt und hintergangen und stieß ihn, den nach der Rettungsaktion auch noch gesundheitlich angeschlagenen Kommissar, vor den Kopf.
Wieder musste Sarah schmunzeln. Das erste Zerwürfnis, obwohl sie noch gar kein Paar waren.
Und dann waren da Gustav und Lisa. Wer weiß, wie es weitergegangen wäre, wenn die zwei sie nicht umgehend zurechtgestaucht hätten.
Ohne ihren Rat zu suchen wurde sie von Gustav, einem alten Angestellten ihres Vaters und von ihrer besten Freundin Lisa zurechtgewiesen. Sie zögerten keine Sekunde, ihr die Leviten zu lesen und einen Spiegel vorzuhalten.
Was ist Sarah den Beiden heute dankbar dafür.
Zur Aussprache mit Frank bereit, tauchte sie wieder in die harmonische Welt von Frank und seiner Tochter ein und musste erkennen, dass sie mit ihrem persönlichen Leid nicht der Nabel der Welt war. Leider konnte sie sich Frank nicht erklären, da ihm seine Verletzungen schwer zu schaffen machten.
Als Sarahs Vater, zu dem sie kein besonders harmonisches Verhältnis pflegte, durch einen Herzinfarkt schwerverletzt verunfallte, war Frank aber wider Erwarten zur Stelle. Sarah erwachte vollends aus ihrer Lethargie und gestand sich die Liebe zu Frank ein. Sie verbrachten eine unvergessliche Nacht miteinander, und sie fühlte sich seit langem mal wieder richtig geliebt, verstanden und vor allem geborgen. Nach und nach fand Sarah ihren persönlichen Frieden wieder, bis der Fall eine ungeahnte Wende nahm.
Sie war die Erste die den Eigenbrödler Benno ernst nahm, ihn vor einer großen Dummheit bewahrte und so mit der Nase auf die Lösung des Falles gestoßen wurde.
Der jahrzehntelangen Geheimniskrämerei müde, öffneten sich mehr und mehr die bisher unbeteiligt wirkenden Dorfbewohner, allen voran Sarahs Nachbarin Sina Rosenbaum, fünf geheimnisvolle alte Männer und der Pfarrer, wobei jeder seine eigene Geschichte hatte und sich erst zu diesem Zeitpunkt erkennen ließ, wie weit diese eigentlich miteinander verflochten waren. Ein schreckliches Verbrechen in den Wirren der Nachkriegstage und eine nicht weniger schreckliche Vergeltungsaktion.
Für Sarah und Frank war kaum noch zu erkennen, wo eigentlich die Grenze zwischen Schuld und Unschuld war. Sie wurden nicht nur mit dem Kleinbürgertum eines Dorfes konfrontiert, sondern mussten sich auch mit der dunklen Vergangenheit des Holocaust, den Nachkriegsrepressalien der russischen Armee und den Machenschaften der Stasi in der ehemaligen DDR auseinandersetzen.
Es zeigte sich, dass die gefundenen Knochenreste nicht nur die Überbleibsel eines Kapitalverbrechens waren, sondern führte die Beiden auch zu einem spektakulären Fund.
Es stellt sich heraus, dass der Raum ohne Türen realer war als angenommen, und er bescherte den Dorfbewohnern von Glostelitz für einen Moment das Gefühl der gesellschaftlichen Dazugehörigkeit.
Russische Rotarmisten machten an diesem verhängnisvollen 10. Juli 1945 während eines Transportes von Kunstgegenständen Halt in Glostelitz. Während eines Saufgelages vergewaltigten sie Sinas Mutter. Ihre ganze Familie musste sich die Tortur mitansehen. Sina, damals gerade zehn Jahre alt, erlebte, versteckt auf dem Heuboden, nicht nur wie ihre Mutter gedemütigt wurde, sie musste auch hautnah miterleben, wie ihr Bruder den russischen Peiniger mit einer Heugabel tötete und die restlichen Soldaten daraufhin ihre Eltern, ihren Bruder, ihren Onkel und ihre Tante in einem tosenden Kugelhagel niedermetzelten. Sie rannte um ihr Leben und fand Zuflucht in der alten Dorfkirche. Schützend stellte sich der alte Pfarrer, Werner Grams Vater, den Russen entgegen. Sina überlebte, der Pfarrer nicht. In ihrem Frust, ein verängstigtes kleines Mädchen nicht gefunden zu haben, brannten sie die Kirche nieder und verwüsteten den Dorffriedhof, während sich die kleine Sina fast zwei Tage im Wald versteckte. Es zerriss Sarah das Herz, als ihr Sina vor einem Jahr ihre Geschichte erzählte, nichts ahnend, dass genau in dieser Zeit, in der Sina sich versteckte, fünf Jugendliche aus dem Dorf das Recht in ihre Hand nahmen, die ihren Rausch ausschlafenden Soldaten überwältigten und erschossen. In einer Nacht und Nebelaktion wurden die Leichen der Soldaten, Sinas Familie und der Pfarrer auf dem alten Gutshof vergraben. Nach dem Krieg war es ein Leichtes, Leichen verschwinden zu lassen, ohne dass jemand nachfragte. Die Kunstgegenstände wurden in ein altes Werkstattgebäude eingemauert und über das Geschehen legte sich ein Mantel des Schweigens. Sechzig lange Jahre.
Sarah war sich bis dahin noch nicht sicher, wer außer den Beteiligten davon wusste. Sie rannte die ersten Tage gegen eine Mauer aus Verschwiegenheit, Unwissen und Geheimniskrämerei. Erst Benno stieß sie auf die Lösung. Von seiner Mutter verlassen und auf der Flucht vor dem langweiligen Dorfleben, entdeckte er die Unstimmigkeiten zwischen der inneren und äußeren Architektur des alten Werkstattgebäudes. Verzweifelt drohte er, wegen der ihm von seinem Vater, den Sohn des alten Pfarrers auferlegten Verschwiegenheit, an seinem Wissen zu zerbrechen. Der fast nicht mehr auszuhaltenden Geheimniskrämerei müde, offenbarten sich die in die Jahre gekommenen fünf Jugendlichen Sarah und dem Kommissar. Sie allein wussten, dass in den Kisten Kunstgegenstände von unschätzbarem Wert waren. Was für ein unvorhergesehener Fund für das verschlafene Dorf. Auf einmal war Glostelitz in aller Munde. Sarah, die sich mittlerweile in Glostelitz angekommen fühlte, ging es nicht um den Wert der Kunstgegenstände. Sie erkannte sofort, wie einem fast vergessenen Ort mit so einem Fund in der Öffentlichkeit plötzlich alle Türen offenstanden. Sie spürte die Sehnsucht der Dorfbewohner, wieder einen Friedhof und eine Kirche haben zu wollen, und so setzte sie alle Hebel in Bewegung, dies zu ermöglichen. In ihrem Vater und dem Polizeidirektor Bernhard Kuntz fand sie auch tatsächlich bereitwillige Unterstützer.
Es verging nicht viel Zeit, und die Dorfbewohner konnten in einer bewegenden Zeremonie einen kleinen Kirchenneubau und den wieder hergestellten Friedhof einweihen.
Ein unvergesslicher Tag für Sarah, schon deshalb, weil sie ihn mit den ihr wichtigen Menschen verbringen konnte:
Ihre Eltern, die beruflich kürzertreten wollten, um endlich mehr Zeit für einander zu haben, Gustav, der der Familie liebgewordene alte Wegbegleiter ihres Vaters, der sich auch endlich zur Ruhe setzen wollte, der Polizeidirektor und ein alter russischer Bataillonskommandeur. Beide arbeiten sie Seite an Seite seit Jahren in einer Sonderkommission zur Aufklärung von Kriegs- und Nachkriegsverbrechen auf deutschem Territorium. Der über achtzig Jahre alte ehemalige Kommandeur hatte sich stellvertretend, in einer bewegenden Rede bei den Bewohnern von Glostelitz für die Gräueltaten der russischen Soldaten entschuldigt und um Vergebung gebeten. Lisa, ihre beste Freundin, der Pfarrer, sein Sohn Benno, Sina, die endlich mit der Vergangenheit abschließen konnte, ja das ganze Dorf war auf den Beinen. Und allen voran waren sie da, ihr Kommissar und seine bezaubernde Tochter.
Sarah musste sich eingestehen, dass sie mit dem Polizeidienst immer noch nicht abgeschlossen hatte. Mit der Gewissheit, dass sich das Verhältnis zu ihren Eltern gebessert hatte, sie mit Lisa die beste Freundin der Welt an ihrer Seite hat und dass sie von den Dorfbewohnern akzeptiert wurde, entschied sie sich für ein Leben in Glostelitz und für die Liebe zu Frank und seiner Tochter.
Und nun steht sie hier vor der wieder aufgebauten fertigen Scheune. Umgebaut zu einem großzügigen Wohnhaus, so wie Sarah es liebte. Wenig Trennwände, viel Platz, viel Holz und vor allem viel Licht sollte es haben. Ihr Vater, Gustav und vor allem Frank, wenn es sein Polizeidienst denn zuließ,