„Keine Drohungen, Palmer. Und für die Sache mit Hernandez habe ich mich bereits entschuldigt. Obwohl Sie das Problem ja selbst gelöst haben, auf eindrucksvolle Weise.“ Sie lächelte. „Ich mag harte Männer, die Kämpfe gewinnen. Waschlappen sind mir zuwider.“
„Und wie steht es mit Hurensöhnen, Agent?“, sagte Palmer, reichte hinüber und nahm ihre Hand in seine.
Sie schien erschrocken, wollte die Hand wegziehen, sah Palmer dann aber lächeln. Sie lächelte auch und gab nach, ihre Augenbrauen zuckten hoch, beide jetzt, fast kokett, als hätte er mit ihr flirten wollen und sie hätte Zustimmung signalisiert.
Dann griff Palmer ihren Zeigefinger und bog ihn nach hinten.
12
„Was tun Sie da, Palmer“, sagte sie, ihre Stimme mehr ein Zischen und die Augen weit aufgerissen. „Sie tun mir weh.“
Palmer war sich sicher, dass sein Griff ihr nicht wehtat und hielt fest. „Sehen Sie, Agent, Hernandez hat mir auch keine Antworten geben wollen, genau wie jetzt Sie. Also hab ich ihm einen Finger gebrochen. Zwei sogar. Und er hat mich noch nicht einmal einen Hurensohn genannt. Es war nicht notwendig, aber ich hätte ihm alle Finger gebrochen und trotzdem heute Nacht geschlafen wie ein Baby. Sie dürfen mir daher glauben, dass es mir auch nichts ausmacht, Ihre zierlichen Finger zu brechen.“
Wieder versuchte sie, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien. Sie sah ihm wohl an, dass er es ernst meinte.
„Okay, okay, lassen Sie los. Was wollen Sie wissen?“
Palmer hielt fest. „Was genau hat Li vor?“
„Er will ein Attentat verüben, hier, bei uns. Was genau, wissen wir nicht hundertprozentig, auch nicht wo. Das ist die Wahrheit. Wir denken, dass er ein Gebäude in die Luft sprengen will. Ein Wahrzeichen. In New York vermutlich, vielleicht das Empire State oder die Börse in der Wallstreet, wir wissen es nicht.“
Vermutlich. Vielleicht. Wissen es nicht.
Palmer sagte, „Wann?“
„Wir wissen nicht genau, wie weit er mit seinen Vorbereitungen ist. Wir glauben, er kann in den nächsten ein, zwei Wochen losschlagen, drei höchstens. Es eilt also. Und jetzt lassen Sie meinen Finger los, Sie tun mir weh.“
„Sie sind ja ein noch größerer Waschlappen als Hernandez, Agent. Sie behaupten also allen Ernstes, eine einzelne Person, nicht vernetzt, ohne finanzielle und logistische Unterstützung, hätte die Absicht, das Empire State Building in die Luft zu sprengen? Oder die Börse? Dazu braucht es Monate der Vorbereitung und beste Kontakte hier in den Staaten. Er muss Sprengstoffe besorgen und lagern, er muss sich mit Sprengstoffen auskennen. Li ist Geisteswissenschaftler, nicht Ingenieur oder Chemiker. Er hat keine Ahnung von Sprengstoffen.“
„Unsere Informationen deuten darauf hin, Palmer. Was soll ich sagen?“
„Ihre Informationen sind nichts wert, Agent. Das Empire State und die Börse sind Stahlkonstruktionen. Und solche Stahlkonstruktionen fallen nicht einfach so in sich zusammen, wie wir seit Nine Eleven wissen. Und wenn Li keinen Jumbo benutzen will, dann braucht er eine ganze Menge Sprengstoff, den er an etlichen Stellen anbringen und zeitgleich zünden muss. Richtig? Das alles ist sehr kompliziert und kostet sehr viel Geld. Ein Vermögen. Wie soll Li das alleine fertig bringen? Zumal er derzeit noch in Südostasien ist, wie Sie sagen.“
„Er bringt es fertig. Er hat Hilfe. Jemand aus seiner Zeit in Hong Kong ist bei ihm. Jemand, den wir genauso dringend suchen wie Li.“ Sie sagte, „Ihr alter Freund Li ist ein anderer geworden, seit Sie ihn zuletzt gesehen haben. Sie haben vorhin selbst gesagt, dass das jetzt siebenundzwanzig Jahre her ist. In einer solchen Zeit ändern sich Menschen.“
„Mark Li war nie mein Freund, Agent.“
Palmer hatte Li und Linda nicht mehr gesehen, seit er die Tür ihrer Wohnung in Hong Kong Central hinter sich zugezogen hatte. Später hatte er nach ihnen geforscht und erfahren, dass sie in Singapur lebten. Er war oft in Singapur gewesen und kannte den Compound, in dem sie wohnten und wusste, wo Li arbeitete. Aber er hatte die beiden nie besucht.
Palmer sagte, „Aus einem harmlosen Fünfunddreißigjährigen wird kein sechzigjähriger extremistischer Terrorist, der Gebäude in die Luft sprengt. Das ist Unfug.“
„Wussten Sie, dass Li kein simpler Spion war? Nicht einer von vielen?“
Palmer wartete.
„Er war der Beste“, sagte sie. „Spionage, Gegenspionage, Sabotage. Wann immer ein Auftrag besonders heikel war, haben die Chinesen Li eingesetzt, dreißig lange Jahre. Dann hatte er genug oder seine Zeit war um und er ist mit Linda nach Singapur gezogen und hat sich nur noch auf seinen bürgerlichen Job konzentriert. Das war vor neun Jahren. Aber er hat seine Fähigkeiten nicht verlernt. Sie wissen, dass man solche Dinge nicht verlernt. Man kommt vielleicht etwas aus der Übung, aber man verlernt es nicht. Und nach Jahren im Spion-Ruhestand, nach Jahren nur als Wissenschaftler, da ist ihm wohl langweilig geworden.“
„Sabotage?“
Azone nickte. „Das haben Sie nicht gewusst?“
Wenn es stimmte, was sie sagte.
Er hielt immer noch ihren Finger leicht nach hinten gebogen. Das Roadhouse leerte sich zusehends, ihm blieb nicht mehr viel Zeit. „Und was sagen die Chinesen dazu?“
„Die Chinesen?“
„Das Ministerium für Staatssicherheit, der chinesische Geheimdienst, Agent Azone. Was sagen die dazu? Schließlich ist Li chinesischer Staatsbürger und ehemaliger Topspion, wie Sie behaupten. China wird es interessieren, wenn einer der ihren jetzt ein Terrorist ist und Gebäude in den USA in die Luft jagen will. Denn das könnte zu allerhand diplomatischen Verwicklungen führen.“
„Wir wissen nicht, was die Chinesen dazu sagen“, sagte sie. „Zwar ist die Welt heute anders als zu Zeiten des Kalten Krieges, als wir noch alle wussten, wo genau der Feind stand. Aber so anders ist sie nicht. Wir unterhalten enge Beziehungen zu China, wir sind einer der Haupthandelspartner und selbstverständlich versichern wir uns regelmäßig des gegenseitigen Respekts und all das. Aber ebenso selbstverständlich teilen die Chinesen mit uns keine geheimdienstlichen Informationen. Und wir teilen ganz sicher keine mit ihnen. Wir haben keine Ahnung, was die Chinesen wissen und ob sie Interesse an Li haben.“
„Ich dachte, ihr Heimatschützer wüsstet alles?“
„Alles, was wir wissen wollen, Palmer. Was die Chinesen über Li wissen und denken, interessiert uns nicht.“ Sie sagte, „Und wenn Sie jetzt nicht meine Hand loslassen, schieße ich Ihnen ein Loch ins Bein.“ Mit den Augen deutete sie auf ihren freien Arm. Unterarm und Hand hielt sie unter dem Tisch.
In den vergangenen Minuten hatte sie mit ihrer freien Hand unter dem Tisch herumgemacht, Palmer hatte es beobachtet. Jetzt hörte sie sich an, als ob sie tatsächlich eine Waffe auf ihn gerichtet hielt. Und sie sah aus, als ob sie dabei sogar Spaß hätte.
Immerhin, sie war Teil einer Behörde, die Terroristen jagte, und sie war hier, nachts, in einer abgeschiedenen Bar. Im Westen. Wäre Palmer ihr Chef, hätte er ihr geraten nicht ohne Waffe zu gehen. Die Chancen standen also nicht schlecht, dass in diesem Moment unter dem Tisch tatsächlich ein Lauf in seine Richtung zeigte.
„Ich glaube nicht, dass Sie abdrücken“, sagte er. „Falls Sie etwas zum Abdrücken