„Aber Li war nicht der, der er vorgegeben hatte zu sein. Li hat Ergebnisse nach Peking geliefert. Wenige, denn Walsh war vorsichtig, aber Li hat geliefert. Der Abschlussbericht unserer Leute in Hong Kong beweist, dass Mark Li keinesfalls ein wahrer Freund Ihrer Eltern war. Das war alles gespielt, Palmer, alles vorgetäuscht. Li war Profi und hat die Nähe des neuen Botschaftsmitarbeiters schlicht deshalb gesucht, um ihn zu überwachen. Und genau das hat er getan.“
„Li hat mich in Mandarin unterrichtet, damit ich, wie er sagte, ’gepflegtes Chinesisch’ lerne, nicht dieses ’Kauderwelsch’, womit er Kantonesisch meinte. Er hat mit mir chinesische Mythen gelesen, Sun Tzu natürlich auch, Die Kunst des Krieges. Der Unterricht war okay, Li war sehr geduldig, wenn ich mich recht erinnere. Es ist lange her. Er hat sich meinen Mentor genannt, und es gab eine Zeit, da war ich stolz darauf. Und Sie sagen, das war alles nur gespielt?“
„Nach dem Tod Ihrer Eltern haben Mark und Linda Sie aufgenommen“, sagte Azone. „Drei Monate haben Sie bei den beiden gelebt. Besuchten sogar eine gute chinesische Privatschule. Und dann sind Sie verschwunden. Warum?“
Linda hatte sich um ihn gekümmert wie um ein eigenes Kind, fürsorglich, warmherzig. Bei Li war das anders. Li war immer schon distanziert gewesen, auch als er ihn unterrichtete, immer. Nach dem Tod seiner Mutter und dem Tod von Walsh verstärkte sich das noch. Als er mehr über den Unfall wissen wollte, ging er zur Polizei, aber mit einem Dreizehnjährigen wollte dort niemand sprechen. Dann hat er sich an Li gewandt, den Erwachsenen, den Geheimdienstler mit besten Kontakten zur Polizei, für den es ein Leichtes gewesen wäre, die Unfallakten einzusehen. Aber Li hat nur gelächelt und gemeint, er könnte ihm nicht helfen. Li hat es nicht einmal versucht. Am Morgen darauf hat er seinen Pass eingesteckt und seine dreißig gesparten Dollar und ist gegangen. Und es sollte sechs Jahre dauern, bis er wieder in einer Wohnung mit fließendem Wasser und Klimaanlage leben und nicht mehr täglich um sein Leben kämpfen würde.
All dies jedoch behielt Palmer für sich und sagte nur, „Ich war ihnen dankbar. Aber beide waren traditionell chinesisch erzogen und wollten die gleiche Erziehung an mich weitergeben. Das musste schiefgehen.“
Azone nickte.
„Ich kenne Li aus einer Zeit, als ich Kind war“, sagte er. „Mit dreizehn habe ich ihn zuletzt gesehen. Das ist siebenundzwanzig Jahre her. Und nehmen wir an, dass Ihre Leute recht haben und Li hat uns damals tatsächlich etwas vorgespielt. Wie kommen Sie dann darauf, dass ich weiß, wie er denkt und wie er entscheidet?“
„Weil Sie anders waren als andere Kinder. Erwachsener. Sie haben bereits als Kind sehr viel erlebt. Das hat Sie sehr schnell reifen lassen. Sie mögen vom Alter her ein Kind gewesen sein, aber in ihrem Inneren waren sie bereits ein Erwachsener. Sie haben Mark Li sehr gut kennen gelernt.“
„Wovon reden Sie, Agent?“
„Sie wissen, wovon. Dass Sie mit dreizehn Jahren in einer Stadt wie Hong Kong untergetaucht sind und auf eigenen Füßen gestanden und überlebt haben. Sie waren sehr früh sehr reif, Palmer.“
Azone machte eine Pause.
Palmer ebenso.
„Ich habe vorhin ein Ereignis ausgelassen“, sagte sie. „Ihre Kindheit ist eigentlich ganz normal verlaufen, bis zu dem Zeitpunkt, als Sie mit Ihren Eltern nach Hong Kong gezogen sind. In Hong Kong jedoch haben Sie sofort Ärger mit Jugendgangs bekommen. Nichts Dramatisches, hat uns die Polizei gesagt. Aber dann ist etwas passiert.“
Sie wartete und sagte dann, „Der Mann war Chinese und gehörte zu den Triaden, nicht? Er hat den Besitzer des Clubs erpresst, in dem Sie trainiert haben. Schutzgeld. So steht es in den Polizeiakten. Alle haben davon gewusst. Sie, die anderen Schüler, die anderen Clubs, die Polizei. Es war kein Geheimnis, dass die Triaden die Stadt unter sich aufgeteilt hatten. Jede Woche kam dieser Chinese, immer am selben Tag, zur selben Stunde und hat sich sein Geld abgeholt. Eines Tages sind Sie ihm nachgelaufen, hinaus auf die Straße und haben ihm gesagt, es wäre jetzt Schluss und er sollte nicht wieder zurückkommen. Er hätte sie ausgelacht und verhöhnt und dann geschlagen. Ins Gesicht, so haben Sie bei der Polizei zu Protokoll gegeben. Sie hätten sich gegen weitere Schläge gewehrt und mit ihm gerungen und ihm dabei das Genick gebrochen. Versehentlich. Es war Notwehr, haben Sie gesagt, Notwehr und ein Unfall.“
Azone hatte ihr Glas wieder genommen und hielt es fest, ohne zu trinken. Sie sah ihn an, und Palmer bemerkte erst jetzt, dass ihre Augen tatsächlich stahlblau waren.
Sie sagte, „Ein Zwölfjähriger ringt mit einem fünfundzwanzigjährigen Mitglied der Triaden und bricht ihm das Genick. Wie um alles in der Welt haben Sie das fertig gebracht? Und warum haben Sie das getan? Warum sind Sie diesem Kerl hinterher? Sie waren zwölf Jahre alt, Palmer.“
Warum er das getan hatte? Für wen das wirklich eine Frage war, der würde Antwort nie verstehen.
Er schwieg.
„Uh, jetzt haben Sie wieder diesen Blick“, sagte sie.
Er war versucht zu fragen, welchen Blick sie meinte, sagte aber nur, „Und warum haben Sie mit der Polizei in Hong Kong gesprochen? Und sogar Akten gelesen?“
„Ich meinte den Blick, den Sie auch vorhin hatten. Als ich Sie fragte, ob Sie bereits einmal in Nordkorea waren. Waren Sie?“ Sie wartete auf eine Antwort, bekam aber erneut keine. „Wir mussten sehen, ob Sie der richtige Mann für uns sind, Josh Palmer, deshalb haben wir in Hong Kong nachgeforscht. Das ist kein Grund, sauer auf uns zu sein. Oder auf mich.“ Sie sagte, „Also, warum haben Sie das getan? Sie waren ein ganz normales Kind. Schon sehr früh sehr reif, geistig, offensichtlich auch körperlich, aber eben doch ein Kind. Und dann, von einem Tag auf den anderen, waren Sie ein Kind, das von der Polizei den Spitznamen Breaker Breaker bekam, weil es einem Erwachsenen das Genick gebrochen hatte.“
Die Polizei hatte ihm keinen Gefallen damit getan. Breaker Breaker. Der Name forderte die Gangs geradewegs dazu auf, sich mit ihm anzulegen und diesem Jungen zu beweisen, dass man keine Angst vor ihm hatte, nur weil er Breaker Breaker genannt wurde und anderen die Knochen brach. Immer wieder musste Palmer diesen Typen beweisen, dass er den Namen zu Recht trug. So lange, bis jeder es glaubte.
Palmer fragte sich, wie Agent Azone aufgewachsen war. Wohlbehütet? Ein halbes Dutzend älterer Brüder, die sie vor den Rowdys auf der High School beschützt hatten? Die Schwester die beste Freundin, die Mutter immer für sie da? Der Vater mit viel Verständnis für die Jugendstreiche seiner kleinen Prinzessin?
Palmer schwieg.
Und Azone überraschte ihn.
„Ich bin Special Agent geworden, weil ich auf der richtigen Seite stehen wollte. Aber ich weiß, dass – ich habe gelernt, dass wir manchmal machtlos sind. Und glauben Sie mir, Palmer, ich weiß, was das bedeuten kann“, sagte sie.
Als ob sie es meinte. Dass man schon mal selbst dem Recht zum Recht verhelfen musste; dass sie das verstand.
„Was wollen Sie von Li?“
„Wir haben Leute in Südostasien, die nach Li suchen. Wir haben gute Kontakte dorthin. Aber Mark Li ist nicht der normale Terrorist, wie wir sie aus Indonesien oder von den Philippinen kennen. Also eher unterdurchschnittlich gebildet, einfache Herkunft, leicht beeinflussbar. Typ Selbstmordattentäter, der mit selbstgebastelten Bomben in eine westliche Diskothek in Bangkok oder Manila oder auf Bali spaziert und sich in die Luft sprengt und möglichst viele von uns mit in den Tod reißt. Möglichst viele der verhassten Amerikaner. Nein, Ihr Mark ist anders. Er würde sich nicht selbst in die Luft sprengen. Li ist intelligent, er kennt andere Wege. Er operiert alleine, lässt sich nicht anheuern. Er hat zwar Kontakte zu den Terrorgruppen der Region, Jemaah Islamiah in Indonesien, Abu Sayyaf auf den Philippinen. Er hatte sogar Kontakt zu dem Anführer der Singapurer Zelle der Jemaah Islamiah, einem gewissen Mas Selamat Kastari. Aber er gehört nicht zu ihnen. Niemand weiß viel über Li. Er ist ein Profi und ein Einzelgänger. Ich glaube“, sagte sie, „das haben Sie beide gemein.“
„Sagten Sie gerade ... Terrorist?“
Sie nickte. „Das war mein Punkt.“