Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi. Elke Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elke Schwab
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599845
Скачать книгу
in Frankreich ermitteln zu dürfen, wo der Abstand ihr Gelegenheit geben würde, über alles nachzudenken. Doch so, wie Behrendt gerade aussah, ahnte sie, dass sie ihre Hoffnungen schnell begraben konnte. Sein schütteres Haar stand wie elektrisiert vom Kopf ab, während er ein Stück Papier in seinen Händen drehte. Seine Brille saß auf seiner Nasespitze, damit er Tanja über den Rand hinweg besser sehen konnte. So verfolgte er jede ihrer Bewegungen, bis sie sich endlich auf dem Besucherstuhl vor ihrem eigenen Schreibtisch niederließ.

      „Sagt dir der Name Daniela Morsch etwas?“, fragte er anstelle eines Grußes.

      „Nein. Sollte er?“

      „Allerdings. Wenn du eine gute Kriminalkommissarin sein willst, musst du mehr darüber wissen.“ Diese Spitze saß. „Daniela Morsch verschwand vor zwei Jahren in Potterchen.“

      Tanja erschrak.

      „Das Kind war damals zwei Jahre alt. Es wurde nie gefunden.“

      Tanja spürte, wie ihr schummrig wurde. Sie starrte ihren Chef und Stiefvater fassungslos an.

      „Ich bin mit dem Vater des Kindes verabredet“, sprach Behrendt weiter. „Er ist alleinerziehend. Leider geht es ihm seit dem Verschwinden seiner Tochter nicht so gut, wie ich erfahren habe. Er kann seiner Arbeit nicht mehr nachgehen, ist Hartz IV-Empfänger.“

      „Warum du?“, fragte Tanja misstrauisch. „Ist das nicht die Aufgabe von Dieter Portz?“

      „Weil ich nicht an meinem Stuhl festgewachsen bin“, antwortete Behrendt pikiert. Er lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück, nahm seine Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel, während er weitersprach: „Ich mache das nicht, um dich zu ärgern. Ich mache mir Sorgen um dich, weil ich befürchte, dass du dich aus einem Gefühl der Loyalität heraus in einen Fall stürzt, der dich überfordern könnte.“

      „Du behandelst mich wie ein kleines Kind, seit ich den Fall der verschwundenen Annabel übernehmen will. Warum?“, fragte Tanja in einem patzigen Tonfall.

      „Weil es mir nicht egal ist, was mit dir passiert.“

      Tanja schluckte. Diese Worte trafen sie unvermittelt. Damit brachte er etwas zum Ausdruck, was sie bei ihren hitzigen Diskussionen um ihren Auslandseinsatz nicht bedacht hatte: Gefühle. Sie war ihm nicht egal. Diese Information brachte sie aus dem Konzept. Hatte sie bisher überreagiert und seine Reaktionen falsch interpretiert? Hatte sie ihm seit seiner Heirat ihrer Mutter Unrecht getan? Sie entschuldigte sich für ihre Schroffheit.

      „Die Franzosen wenden andere Arbeitsmethoden an als wir“, sprach Behrendt nach der kurzen Unterbrechung weiter. „Du kennst dich damit nicht aus. Ich auch nicht. Deshalb wissen wir nicht, was auf dich zukommt.“

      „Heißt das, mein Antrag auf den Einsatz als Verbindungsbeamtin wurde genehmigt?“

      Behrendt nickte.

      Tanjas Augen leuchteten auf.

       Wo war der Kapuzenmann? Sie fror ganz fürchterlich.

       Sie schlang ihre dünnen Arme um ihren Körper. Damit versuchte sie, sich selbst zu wärmen. Aber es gelang ihr nicht. Sie wollte einen Schritt nach vorne wagen, um zu sehen, ob er wieder am hellen Rund über ihr stand und lauerte. Aber ihre Beine fühlten sich steif an. Sie konnte sich kaum bewegen. Sie versuchte es trotzdem, fiel dabei hin. Der Schmerz war schrecklich. Sie weinte leise, wollte auf keinen Fall, dass der Kapuzenmann sie hörte. Dann könnte er sie finden und schnappen. Sie schaute nach oben.

       Das Rund, an welchem er eben noch gestanden hatte, war gar nicht mehr hell. Im Gegenteil. Jetzt war es dunkel. Es gab kein Licht mehr. Hastig atmete sie ein und aus. Die Luft brannte in ihrer Lunge. Es war noch genug davon da. Das beruhigte sie.

       Sie stellte sich auf ihre zitternden Beine und streckte ihre Hände nach oben. Der Ausgang lag viel zu hoch. Da kam sie nicht dran. Sollte sie laut um Hilfe rufen? Bei dem Gedanken spürte sie schon wieder diese schreckliche Angst, der Kapuzenmann könnte sie hören.

       Er war überall. Er wartete auf sie.

       Und wenn er wusste, wo sie steckte, kam er sie holen. Nein. Sie durfte nicht rufen. Sie durfte keinen Laut von sich geben. Sie musste ganz still bleiben, damit der Kapuzenmann sie nicht fand.

       In der Stille hörte sie ein ganz leises Rieseln unter ihren Füßen. Was war das?

      12

      Nach erfolgloser Suche mittels Hundestaffel, DRS und Hubschrauber gab Jean-Yves Vallaux Großalarm. Die Police National stellte eine zentrale Einheit zur Verfügung. Als Büro diente vorübergehend das Gebäude der Gendarmerie in Sarre-Union. Sie sandten Kollegen in die benachbarten Gemeinden Sarreguemines in Lothringen und Drulingen im Krummen Elsass aus, um dort ebenfalls nach dem Kind zu suchen. Die einzige Mitarbeit, die Jean-Yves bisher noch nicht hatte mobilisieren können, war die der Einwohner von Potterchen. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sie von der Dringlichkeit der Suchaktion zu überzeugen. Einerseits hatten einige von ihnen bereits ihre Schuldigkeit getan. Aber das konnte nicht alles gewesen sein. Es ging um ein kleines Mädchen, das immer noch spurlos verschwunden war. So etwas konnte eine kleine Gemeinde wie Potterchen nicht einfach kalt lassen.

      Er ahnte, woran es lag. Sie kannten ihn. Deshalb sahen sie es nicht ein, sich seinen Anweisungen zu fügen. Auch seine Versuche, Pascal Battiston zu den Ereignissen während des Ausrittes zu befragen, waren an den ständigen Spannungen zwischen den beiden Männern gescheitert. Ein Zustand, der Jean-Yves grämte. Das Leben eines Kindes durfte nicht an den Launen dieses unfähigen Reitlehrers, der gleichzeitig der Schwiegersohn des Bürgermeisters und der Sekretär der Mairie war, scheitern. Aber gegen diesen Mann war Jean-Yves machtlos – auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte. Sein ganzes Leben, sein Handeln und sein Fühlen in Potterchen waren bisher von Pascal Battiston beherrscht worden. Wie es aussah, hatte sich daran nichts geändert, kaum dass er zurückgekehrt war.

      Sein letzter Ausweg war der verzweifelte Versuch einer Gemeindebesprechung, zu der er sämtliche Dorfbewohner in die Mairie von Potterchen eingeladen hatte.

      Diese Hürde wäre überwunden. Nun stand er vor der Nächsten.

      Enorme Wut stieg ihn ihm hoch, als er im Büro der Mairie ausgerechnet Pascal Battiston begegnete. Er ahnte, dass dieser Mann mit seiner ungebetenen Anwesenheit seine Autorität untergraben wollte. Das durfte Jean-Yves nicht zulassen. Nun galt es, keine Emotionen zu zeigen, denn damit spielte er diesem Gernegroß nur in die Hände.

      Sie standen sich gegenüber, ihre Gesichter auf gleicher Höhe.

      Jean-Yves sprach so ruhig wie möglich: „Ich habe die Mairie für eine polizeiliche Besprechung reservieren lassen.“

      „Ich weiß.“ Die Hochnäsigkeit des Gemeindesekretärs provozierte ihn.

      „Deshalb bitte ich Sie, mir diesen Platz zu überlassen.“

      „Das ist mein Platz. Also habe ich jedes Recht, hierzubleiben.“

      Jean-Yves spürte, wie sein Geduldsfaden riss. „Sie sind hier nur die Sekretärin“, rutschte es ihm heraus. „Also gehen Sie bitte zu den anderen Dorfbewohnern.“

      „Wir können es ja darauf ankommen lassen und herausfinden, wer hier mehr Mann ist: Sie oder ich“, kam es scharf zurück. Die wenigen anwesenden Dorfleute lauschten dem Streitgespräch gespannt. Jean-Yves ärgerte sich über seinen Lapsus. Pascal Battiston hatte genau unter die Gürtellinie getroffen. In Boshaftigkeit war dieser Mann nicht zu schlagen. Aus Angst, es könnte zu viel enthüllt werden, reagierte Jean-Yves darauf mit Schweigen.

      Der Raum füllte sich, bis er fast aus den Nähten platzte.

      Dem Commandant blieb keine andere Wahl, als sich wieder an den Gemeindesekretär zu wenden: „Können wir in einen Schulraum ausweichen?“

      „Davon haben Sie nichts gesagt.“

      Jean-Yves spürte