„Das habe ich auch gerade gedacht.“
An der Kreuzung mitten in Sehndorf stach ein Haus in aufdringlichem Blau hervor. Daneben stand ein alter Waschbrunnen, der stetig mit fließendem Wasser aus der sprudelnden Marienquelle versorgt wurde. Nach nur wenigen Metern machte Milan sie auf das Weingut von Wilhelm Radek aufmerksam. Es befand sich etwas abseits auf einer Anhöhe. Sein Gegenüber bildete ein zerfallener Holzschuppen. Sie stellten den Wagen direkt davor ab, stiegen aus und klingelten an der Haustür. Ein gebräuntes Gesicht lugte zuerst durch einen Spalt in der Tür, bevor ganz geöffnet wurde. Blassblaue Augen glänzten glasig, ein Bauch wölbte sich unter einem viel zu engen Hemd. Der Mann musterte die beiden eindringlich.
Schnell zückten sie ihre Ausweise. Milan fragte: „Sind Sie Wilhelm Radek?“
„Oh ja“, schnaufte er. „Sie sind an der richtigen Adresse.“ Hastig rieb er sich über seinen fast kahlen Kopf, als wollte er seine Frisur in Ordnung bringen. Das Hemd steckte er schnell in den Hosenbund, aus dem es gleich wieder herausrutschte. „Meine Straußwirtschaft mit so reizender Gesellschaft zu öffnen, das übersteigt meine kühnsten Erwartungen.“ Dabei haftete sein Blick an Tanja, deren dunklen Haare vom Wind zerzaust wurden.
„Die reizende Gesellschaft kommt von der Polizei“, stellte Tanja klar.
„Welch eine Verschwendung“, kam es von dem Mann. „Trotzdem dürfen Sie reinkommen und meinen Wein kosten. Sie werden es nicht bereuen.“
Sie betraten ein Gewölbe, dessen Wände durch groben Strukturputz in einem dunklen Beige hervorstachen. Tische und Stühle aus massivem Nussbaumholz bildeten den Mittelpunkt des Raums. Weinflaschen in verschiedenen Größen und Farben dekorierten die kleine Theke direkt neben dem Eingang. Wilhelm Radek wählte eine Flasche Wein aus dem großen Sortiment und stellte Gläser dazu.
„Federweißer“, verkündete er stolz. „Gerade fertiggestellt. Ein Muss.“
Tanja ließ ihn nicht einschenken. „Ich bin im Dienst.“
„Wenn der ganz frisch ist, ist noch kein Alkohol drin“, meinte Milan mit einem Leuchten in den Augen.
„Stimmt. Er hat gerade erst angefangen zu gären“, bestätigte Radek und zwinkerte dem Kriminalbeamten zu.
Tanja ließ sich überzeugen.
„Sehr vernünftig“, flötete Radek. „Auf Brünette stehe ich besonders. Mit Ihrem Pferdeschwanz sehen Sie zum Vernaschen süß aus.“
„Unterlassen Sie Ihre Annäherungsversuche!“, entgegnete Tanja unfreundlich. „Ich bin nicht zum Vergnügen hier, sondern wegen Ihrer Tochter.“
„Bleib locker, Tanja“, murmelte Milan. „Der Mann hat Geschmack.“
Der Blick, den Tanja ihrem Kollegen zuwarf, ließ Milan sofort verstummen.
Grinsend hatte Wilhelm Radek die beiden beobachtet. Dann schenkte er ein helles, trübes Gebräu in die Gläser. Sie stießen an und kosteten davon. Es schmeckte erfrischend und süß - wie Traubensaft. Blitzschnell schoss Tanja Hitze ins Gesicht. Soviel zu dem Versprechen, in Federweißer sei kein Alkohol. Als von Wilhelm Radek immer noch keine Reaktion auf ihre letzte Bemerkung kam, fügte sie an: „Ihre Tochter Annabel. Klingelt da was bei Ihnen?“
„Nein. Sabine nahm das Kind nach der Scheidung mit. Wir hatten uns geeinigt. Deshalb klingelt da nichts bei mir. Na, wie schmeckt mein Federweißer?“
„Ihre Tochter wird vermisst.“, lautete Tanjas Antwort.
Endlich reagierte Radek. Mit offenem Mund starrte er Tanja und Milan an.
„Warum weiß ich davon nichts?“
„Das würde uns auch interessieren“, gab Tanja zurück.
„Sabine hat mich nicht angerufen. Und in der Zeitung stand auch nichts von einem vermissten Kind.“
„Annabel ist in Frankreich verschwunden. Vermutlich deshalb.“
„In Frankreich?“
„Ihre Ex-Frau hat dort ein Haus geerbt. Wissen Sie nichts davon?“
„Das ist ja die Höhe. Warum meldet sich Sabine nicht bei mir?“
„Haben Sie Besuchsrecht bei Ihrer Tochter?“ Tanja spürte Unbehagen. Wilhelm Radeks Verhalten gab ihr Rätsel auf. Milan verhielt sich ganz still neben ihr. An seinen Reaktionen erkannte sie, dass ihn dieser Fall wenig interessierte. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr dem Inhalt seines Glases.
„Natürlich. Aber nicht regelmäßig, weil ich das von Berufs wegen nicht einhalten kann.“
„Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“
“Das ist leider schon viel zu lange her.“
10
Der Stamm des Kastanienbaums maß einen Durchmesser von einem Meter. Es war nur ein Baum unter vielen, die die Straße säumten. Doch Jean-Yves fühlte sich wie magisch angezogen. Er ging darauf zu, umrundete den Stamm und sah nichts, keine Einkerbung, keine Risse in der Rinde, nichts.
Ihr Tod hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
Er spürte den Schmerz unerwartet heftig. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, in dieses Dorf zurückzukehren.
Damals hatte er endlich Hoffnung gefasst, gemeinsam einen Weg gefunden zu haben, um miteinander glücklich zu sein. Seine Frau wollte ihr Leben verändern, hatte sie ihm mitgeteilt. Anstatt Verdacht zu schöpfen, hatte er sich gefreut. Was war er nur für ein Idiot gewesen? Wie hatte er nur so blind vertrauen können?
Er schüttelte seinen Kopf.
Über Vertrauen hatte er damals keine Sekunde nachgedacht. Nur an ihre wiederkehrende Lebensfreude. Irrtümlicherweise hatte er sie auf sich selbst bezogen.
Und was war dabei herausgekommen? Ihre Leiche in den Blechteilen eines fremden Autos, das sie so fest umschlossen hatte, dass die Feuerwehr ihre Überreste heraus schweißen musste.
Innerlich aufgewühlt wandte er sich ab. Er sah in bedauernde Gesichter. Das fehlte noch. Mitleid war das Letzte, was er jetzt brauchte. Alle Kollegen hatten um den Zustand seiner Ehe gewusst, aber niemand hätte sich je gewagt, ihn darauf anzusprechen. Und das war auch besser so. Sogar jetzt noch – Jahre später – spürte er wieder das gleiche kollektive Mitleid. Brummig wies er sie an, weiter nach Annabel zu suchen.
Emsig drehte sich jeder in eine andere Richtung und ging seiner Arbeit nach. Die Felder wurden systematisch in breiten Reihen abgegangen. Sie durchstreiften Wälder, durchsuchten Ruinen, leerstehende Häuser, Wassergräben, Hundehütten und sogar den Kindergarten, der abends menschenleer war.
Hundestaffeln rückten an.
Winseln und Bellen der deutschen und belgischen Schäferhunde erfüllten die Felder. Von Annabel keine Spur.
Die Sonne ging unter. In der Dunkelheit mussten sie ihre Arbeit abbrechen. Ein Blick zum Himmel gab Jean-Yves das ungute Gefühl, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Das fehlte noch. Wie lange konnte es ein vierjähriges Mädchen bei stürmischem Herbstwetter draußen aushalten?
11
Behrendt saß in Tanjas Büro - auf Tanjas Platz. Das war kein gutes Zeichen. Solange Heinrich Behrendt nur Kriminalhauptkommissar und ihr Vorgesetzter gewesen war, hatte ihre Zusammenarbeit reibungslos funktioniert. Doch seit er ihre Mutter geheiratet hatte, traten ständig Spannungen auf – sei es zwischen ihnen beiden oder von Seiten der Kollegen, die diese Verbindung argwöhnisch beobachteten. Vermutlich befürchtete jeder, Tanja könnte aus dieser familiären Verflechtung Vorteile für ihre Karriere ziehen. Dabei lagen die Dinge genau umgekehrt. Behrendt würde einen Teufel tun und seine Stieftochter bevormunden. Umso trauriger war es für Tanja, dass ihr niemand von den Kollegen glauben