Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi. Elke Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elke Schwab
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599845
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Schritte hallten durch das fast leere Haus, das nach dem Tod seiner Frau viel zu groß für ihn geworden war. Seine Frau. Ein Seufzer kam ihm über die Lippen. Wie immer, wenn er an sie dachte. Wie immer, wenn seine Gedanken von ihr gefangen genommen wurden. Seine Freunde hatten versucht, ihn zu einem Umzug zu überreden. Das Haus sei viel zu groß für ihn allein. Aber das war das Letzte, was er wollte. Die Macht der Erinnerungen hielt ihn hier fest. Erinnerungen an eine Liebe, die nicht von Leidenschaft oder Temperament bestimmt wurde. Nein, eine Liebe, die tiefer ging. Ihre Zurückgezogenheit war zu seiner Obsession geworden. Das Unberechenbare an ihr zu seinem Fetisch. Diese Frau hatte sein Herz im Sturm erobert. Dabei wusste er bis heute nicht, ob sie seinem Verlangen aus Mitleid oder aus echter Zuneigung nachgegeben hatte. Doch damals hatte das für ihn keine Rolle gespielt. Seine Begierde nach ihr war nicht zu bändigen gewesen. Mit jeder Faser seines Körpers hatte er sich nach ihr verzehrt. Er hatte geglaubt, sein Verlangen würde für sie beide ausreichen. Sein Wunsch sie zu besitzen ging über die Vernunft hinaus, sie selbst entscheiden zu lassen.

      Irgendwann hatte er sich eingestanden, dass es gerade ihre Unberechenbarkeit war, die ihn magisch angezogen hatte. Ihre Launenhaftigkeit, immer schwankend zwischen Leidenschaft und Schwermut. Indem er sich selbst in ihre Einsamkeit verbannte, wollte er ihre Mauer durchbrechen, ihr mit seiner Ruhe und Beständigkeit einen Rettungsring hinzuwerfen. Aber sie hatte ihn nicht ergriffen, sich nicht daran festgehalten. Ihre Rastlosigkeit hatte sie ihre ganze gemeinsame Zeit begleitet – eine viel zu kurze Zeit.

      Sein Blick aus dem Fenster fing einen Teil der Landschaft ein. Vor den nördlichen Ausläufern der Vogesen zeigte sich trotz grauem Wetter der Hafen von Saverne in seiner schönsten Pracht. Eine Schönheit, die ihn schmerzlich an seine Frau denken ließ. Wie gern hatte sie in ihrem Vorgarten gesessen und den Menschen zugesehen. Immer Beobachterin sein, niemals aktiv am Leben teilnehmen. All seine Bemühungen, sie mitzunehmen, mit ihr gemeinsam in das Leben draußen einzutauchen, waren gescheitert. Niemals waren sie gemeinsam über den Quai geschlendert – ein Eis in der einen Hand, mit der anderen aneinander festhaltend, wie so viele verliebte Paare das taten. Mit ihr konnte er nur zusehen, wie andere das Leben in vollen Zügen genossen. Für sie war das passive Miterleben von Glück das Höchste der Gefühle. Deshalb hatte er diese Momente mit ihr geteilt. Es waren schöne Augenblicke gewesen - damals.

      Sie war in Potterchen geboren und aufgewachsen. Ihre Schwester lebte immer noch dort. Vermutlich lag darin der eigentliche Grund, dass er für diesen Fall eingeteilt worden war.

      Er warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sein Dreitagebart ließ ihn verwegen aussehen. Das gefiel ihm besser als die Trauermiene, die er immer aufsetzte, wenn er an seine Frau dachte. Außerdem trieb ihn der Gedanke an, dass ein kleines Mädchen seine Hilfe brauchte.

      Mit neuer Energie verließ er das Haus. In der angrenzenden Garage glänzte ein dunkelblauer Peugeot 607. Er stieg ein und ließ den V6-Motor leise surren. Mit seinen fast fünf Metern Länge war das rückwärts Manövrieren aus der Garage eine erste Herausforderung für Jean-Yves. Gegenüber seinem Haus grenzte der Canal de la Marne au Rhin unvermittelt an die schmale Straße, was für ihn bedeutete, die Geschwindigkeit seines Wagens zu drosseln, sonst würde er im Wasser landen.

      Die schnittige Form des Fahrzeugs ließ ihn ruhig über die Straßen gleiten, der drei Liter Hubraum setzte eine Power frei, die Jean-Yves tief in den Sitz drückte. Er überquerte eine kleine Brücke, passierte das Rohan-Schloss, in dem heute die Museen der Stadt untergebracht waren, und geriet vor dem roten Backsteinbau des Bahnhofs, den kleine Springbrunnen zierten, in einen Stau. Leise surrte der starke Motor unter ihm, ein monotones Brummen, das ihn beruhigte.

      Endlich ging es weiter. Jean-Yves steuerte die Zaberner Steige mit ihren vierhundert Metern Höhe an, ein Zeugnis einer ungeheuren Arbeit, wie ein berühmter Dichter einst seiner Bewunderung Ausdruck verliehen hatte. Während Goethe im achtzehnten Jahrhundert mit seinem Pferd über diesen Pass nach Phalsbourg geritten war, zog er es vor, dessen Spuren mit zweihundertzehn Pferdestärken zu folgen.

      Der Ausläufer der Vogesen verlief in steilen Serpentinen über den Pass, wo er das Col de Saverne hinter sich ließ. Aus den malerischen Fachwerkhäusern, die Saverne beherrschten, wurden alte, charakteristische Steinhäuser, die die Hauptstraße säumten. Er verließ das Elsass mit seiner verträumten Route du Vin, durchquerte das lothringische Dorf Danne et Quatre Vents, dem die Bewohner mit viel Witz und Fantasie eine eigene Persönlichkeit zu verleihen suchten. Am meisten erfreute sich Jean-Yves am Anblick eines rosa Schweins aus Plastik in Lebensgröße in einem der Vorgärten der langen Häuserreihe.

      Nun erreichte er Phalsbourg. Mitten in der Stadt befand sich das geschichtsträchtige Tor, das Goethe einst durchquert hatte. Doch heute blieb Jean-Yves keine Zeit für kulturgeschichtliche Betrachtungen. Ein vierjähriges Mädchen war verschwunden Ihm blieb keine Zeit, er musste auf direktem Weg weiter zu seinem Ziel.

      Das große Internat Saint Antoine zu seiner Rechten prägte Phalsbourgs Stadtbild nachhaltig. Weitere Dörfer folgten, alte Bauernhöfe und Reste von dem, was einst Bauernhöfe gewesen waren, boten sich seinem Auge dar. Hinter einer kleinen Häuserreihe, die als Metting beschildert war, überquerte er die unsichtbare Grenze zum Krummen Elsass.

      Die Landschaft veränderte sich, zeigte sich immer weitläufiger. Statt Weinreben beherrschten nun Maisfelder das Bild. Etliche Häuseransammlungen ohne Ortsbezeichnung wurden ihrer Bedeutung als Kuhdörfer gerecht. Weiden voller Kühe in den Farben schwarz-weiß oder rot huschten an seinem immer schneller werdenden Auto vorbei. Gelegentlich nahm er auch Pferdekoppeln und Schafsweiden wahr. Die Sonne zeigte die letzte Kraft des Sommers, der sich seinem Ende zuneigte. Gelegentlich schaute sie hinter dunklen Wolken hervor und ließ alles in freundlichem Licht erstrahlen.

      Plötzlich huschte ein großer, bedrohlicher Schatten über sein Auto. Jean-Yves richtete seinen Blick nach oben. Störche zogen am Himmel ihre Bahnen. Er schaute ihnen nach und wünschte sich, einer von ihnen zu sein. Diese Vögel waren schlau genug, zur Winterzeit in den Süden zu fliegen.

      In Sarre-Union änderte sich das Bild von neuem. Keine Landwirtschaft, sondern Industriebetriebe stachen hier ins Auge. Eine Saftfabrik, daneben ein Hersteller von Elektrozubehör und im Zentrum der Stadt eine Plastikfabrik – allesamt Garanten für viele Arbeitsplätze im Elsass.

      Hinter Sarre-Union bog er links ab. Hier wurde die Straße schmal. Kurz vor Potterchen sah er die Schienen, die das Dorf einrahmten. Rechts lagen Steinquader, die Reste alter Klostermauern. Der Bürgermeister hatte sich immer noch keine Mühe gemacht, dort etwas zu ändern. Jean-Yves schüttelte verständnislos den Kopf. Da erst fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Seite. Große Rohre lagerten dort. Bagger parkten daneben. Einige Gräben und Löcher klafften bereits in der nassen Erde. Sollte hier doch noch etwas passieren?

      Er überquerte die Schienen. Nur noch wenige Meter und er hatte sein Ziel erreicht.

      5

      Die Türklingel riss Tanja aus ihren Gedanken. Sabine stand wie erstarrt am Fenster. Tanja wartete, ob sie reagierte, doch das tat sie nicht. Also erhob sie sich und öffnete die alte, massive Eichentür.

      Vor ihr stand ein Hüne von einem Mann. Schwarze Haare kräuselten sich über seiner breiten Stirn, ein Dreitagebart betonte ein starkes Kinn. Stahlgraue Augen blitzten unter dunklen Augenbrauen hervor. In der einen Hand hielt er lässig seine Anzugjacke, in der anderen seinen Dienstausweis. Sein Hemd war bis zur Hälfte geöffnet und gab die Sicht auf eine behaarte Brust frei.

      So sieht also ein Hauptkommissar in Frankreich aus, überlegte Tanja. Dabei überlegte sie zu lang. Das merkte sie, als er sie mit einem leichten, französischen Akzent fragte: „Sind Sie Madame Sabine Radek?“

      „Oh. Äh… Nein.“ Verdammt, warum stammelte sie? „Sabine Radek ist im Haus.“

      Um die Tür ohne peinliches Kopf Anstoßen zu passieren, musste er sich bücken. Tanja schaute ihm dabei interessiert zu. Er ging ihr voraus in die geräumige Küche, die durch sein Eintreten plötzlich klein wirkte.

      Sabine stand an einen der Schränke gelehnt, bleich und zitternd.

      „Commandant