Doch es fiel ihm nicht leicht. Er konnte sie kaum ansehen, ohne abzudriften in die Vergangenheit, all die wunderschönen, all die schrecklichen Erinnerungen. Immer wieder rief er sich zurück. In diesen Moment, in dem Jeannie gerade von Poona erzählte, von der Kommune, von Bhagwan und ihrer Liebe zu ihrem „Erleuchteten Meister“.
Hannes konnte sich ein paar bissige Kommentare nicht verkneifen. „Man hört ja, dass es in den sogenannten Therapiegruppen ziemlich rau zugehen soll. Pass auf deine Zähne auf, dass sie dir nicht ausgeschlagen werden.“
Sharani rollte die Augen. „Dieser Scheiß, den der Spiegel da zusammengeschrieben hat, weil diese blöde Eva Renzi im Encounter etwas abgekriegt und sich anschließend bei den Journalisten ausgeheult hat. Natürlich geht es in den Gruppen manchmal ordentlich zur Sache, aber das braucht’s eben, damit diese ganzen ansozialisierten Charakterpanzer aufbrechen und das wahre Ich zum Vorschein kommen kann.“
„Mann, du hast die Ausdrücke ja voll drauf. Bist auch ganz schön gehirngewaschen, oder?“
Sharani war auf einmal nicht mehr so gelassen. „Weißt du“, sagte sie in aggressivem Tonfall, „solche blöden Sprüche habe ich schon hundertfach gehört. Das brauche ich nicht, nicht heute Abend, Hannes, echt nicht. Reden wir über was anderes oder gehen wir nach Hause.“
Nach Hause gehen? Bitte nicht! Er sah ein, dass es keinen Zweck hatte, diese Diskussion auf diese Weise weiterzuführen, und wenn er ehrlich war, wollte er mit Jeannie auch gar nicht diskutieren. Also zuckte er mit den Schultern.
„Du bist alt genug, um zu wissen, was für dich gut ist.“
Jeannie wollte offenbar auch nicht nach Hause gehen. Stattdessen steuerte sie auf einen Themawechsel zu. „Jetzt erzähl doch mal was von dir. Ich weiß ja gar nichts mehr von dir, außer dass du Architektur studiert hast – und danach verliert sich deine Spur…“ Er wollte nicht mit ihr rechten, wer wessen Spur verloren hatte, es war ja völlig egal. Jetzt saßen sie hier beieinander, unverhofft, aber entzückt, beide. Entzückt – komisch, dass ihm dieses Wort in den Sinn kam. Normalerweise war es kein Teil seines aktiven Wortschatzes. Aber heute Abend schien nichts anderes zu passen. Er fühlte sich wie frisch verliebt und war es ja vielleicht auch, zum x-ten Mal frisch verliebt in Jeannie, und gleichzeitig fühlte er sich ungeheuer schuldig. Aber dann schüttelte er die Schuldgefühle ab und begann zu erzählen. Er erzählte vom Studium, von der Band, von dem Büro, in dem er seit einem Jahr mitarbeitete, nur von Gabi erzählte er nicht. Auch nicht, als Jeannie ihn halb scherzhaft, halb bang fragte: „Und du? Bist bestimmt verheiratet und hast drei süße kleine Kinderlein.“ Da schüttelte er nur den Kopf und sagte: „Nein. Ich bin tatsächlich immer noch nicht verheiratet“, was ja nicht direkt gelogen war. Sie fragte nicht weiter, und er sagte nichts weiter dazu.
Stattdessen fragte er: „Also, noch mal, du nennst dich jetzt – wie?“
„Sharani. Ma Deva Sharani.“
„Sharani“, wiederholte er. „Und hat das eine bestimmte Bedeutung?“
Sharani lächelte. „Ma heißen alle weiblichen Sannyasins, so wie alle männlichen Sannyasins mit erstem Namen Swami heißen. Deva bedeutet: göttlich. Denn Bhagwan sagt, dass alle Menschen göttlich sind, sie wissen es nur nicht. Und Sharani, das ist sozusagen mein Vorname. Bhagwan hat ihn mir gegeben, als ich Sannyas genommen habe – als ich Sannyasin geworden bin, sozusagen offiziell seine Schülerin“, fügte sie hinzu, als sie seinen verständnislosen Blick sah. „Ich habe seine Stimme noch im Ohr, als er mir sagte: Sharani, that means: surrender to existence.“ Dabei imitierte sie offenbar den indischen Akzent ihres Meisters, das Wort existence klang wie edschisdensss.
„Surrender – Unterwerfung“, übersetzte er für sich.
Sharani schüttelte den Kopf. „Nein, mit Unterwerfung hat das nichts zu tun. Es heißt Hingabe. Hingabe an die Existenz, an das Leben, an alles. An Gott, wenn du so willst.“
„Fragt sich bloß, an welchen Gott.“ Er konnte es nicht lassen.
Sharani lächelte nachsichtig, und sie sah mehr denn je wie Jeannie aus. „Für mich passt der Name vollkommen. Das ist für mich mit das Schönste und Wertvollste überhaupt, was ich in Poona gelernt habe: mich dem Leben hinzugeben.“ Sie zog die Nase kraus und sah ihn an mit diesem Blick. Diesem Blick, mit dem sie sein Herz eingefangen hatte wie mit einem Lasso. Damals, vor neun Jahren, als er fast siebzehn war und sie fünfzehneinhalb. Diesem Blick, der in weite Ferne zu gehen schien und doch ganz präsent war. Sie schien viel mehr zu sehen als er, das war schon immer so.
„Hier in Deutschland, was war denn mein Leben!“, fuhr Sharani fort. „Aufstehen, ins Krankenhaus, schuften, heimgehen, vor die Glotze, und am Wochenende, wenn ich nicht gerade Dienst hatte, in die Disko, mir die Kante geben oder einen Typen abschleppen, und am Montag das Ganze wieder von vorn. Nein, Johnny, Hannes, das kann’s doch nicht sein. Das habe ich die ganze Zeit gespürt. Und in Poona, bei Bhagwan, da habe ich ein ganz anderes Leben kennengelernt. Mich hingeben ans Leben, an den Augenblick, ans Hier und Jetzt. Nicht in die Lebensversicherung einzahlen, sondern das Leben jetzt genießen. Nicht auf die Rente warten, die in vierzig Jahren kommt, sondern jetzt leben, jetzt! Das Leben sorgt schon dafür, dass ich kriege, was ich brauche.“
Tausend Abers erhoben sich wie eine Armee. Doch er sagte nichts. Hannes wusste, sie hatte Recht, für sich hatte sie Recht. Er spürte eine vage Sehnsucht, es ihr gleichzutun, und wusste gleichzeitig, dass das nie geschehen würde. Sein Leben war vorgezeichnet, in festen Bahnen. Auf einmal kam er sich total spießig vor, mehr tot als lebendig.
Aber dann war die Flasche leer, der letzte Klecks Tsatsiki mit dem letzten Bröckchen Brot aufgewischt, und die Frage stellte sich, die schon seit einer Stunde im Hintergrund lauerte: „Und jetzt?“
Johannes jedenfalls hatte schon seit mindestens einer Stunde mit dieser Frage gerungen, hatte sie immer wieder in den Hintergrund gescheucht. Nun war es Sharani, nein: Jeannie, die sie stellte. „Und jetzt?“
Er traute seinen Ohren nicht, als er sich sagen hörte, einfach so: „Jetzt gehen wir zu mir.“
Jeannie legte den Kopf schief und schob die Hand über den Tisch. Er legte seine Hand auf ihre, und sie schloss ihre Finger um die seinen, legte ihre andere Hand darauf und sagte die berühmten zwei Worte: „Ach, Johnny!“
Und er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Ganz einfach so. Und sie küsste ihn wieder, und wieder, während ihre Hände, ineinander verschlungen, auf dem rohen Holztisch lagen. Alle Schuldgefühle, deren er fähig war – und das war eine beachtliche Menge –, fuhren ihm in die Knochen, aber er ignorierte sie. Eher steigerten sie noch sein Verlangen.
Jeannie zog die rechte Hand aus dem Fingerknäul auf dem Tisch, legte sie ihm auf die Wange und wiederholte: „Ach, Johnny!“ Und er legte seine Hand auf ihre Wange und erwiderte mit rauer Stimme: „Ach, Jeannie!“ Als ob sie diesen Dialog nicht schon hundertmal geführt hätten.
Dann rief er die Bedienung. Während Jeannie auf dem Klo verschwand, zahlte er, stand schon mal auf.
Dann sitzen sie in der Straßenbahn, nebeneinander auf den harten Holzsitzen. Sie hält seine Hand fest umklammert, als wolle sie ihn nie mehr loslassen. Die acht Haltestellen bis zu seiner Wohnung sprechen sie kaum ein Wort. Es gäbe so viel zu reden, doch die Sätze löschen einander aus, bevor sie es auf seine Zunge schaffen, und der Kloß in seinem Hals tut ein Übriges. Stumm sitzen sie nebeneinander, sehen sich nicht an. Als wüssten sie nicht recht, wie es weitergehen soll. Dabei ist es ganz klar.
Kaum haben sie die Tür zu seiner Wohnung hinter sich geschlossen, fallen sie übereinander her. Jeannies Fellweste sinkt im Flur zu Boden, liegt da wie ein totes rotes Tier, seine Jeansjacke gesellt sich dazu. Wie ein einziges Wesen taumeln sie in sein Schlafzimmer, die siamesischen Zwillinge, finden sich unversehens auf dem Bett wieder. Küssen sich atemlos, halten sich fest, fest. Endlich ist es so, wie es immer sein sollte. Das Spiel, bitter ernst, das Begehren, der Kampf, das tödliche Duell. Er hält sie, sie