Wenige Seiten später noch einmal:
Mahamudra ist eine Erfahrung des Nichts – du bist ganz einfach nicht da. Und wenn es dich nicht gibt, wer ist dann da, um zu leiden? Wer soll dann in Schmerz und Qual sein? Wer soll dann deprimiert und traurig sein?
Sie trank die Worte aus den Seiten, Nektar für ihre geschundene Seele. Wenn es dich nicht gibt, wer ist dann da, um zu leiden? War das endlich ein Weg heraus aus dem ewigen Leiden, dem Deprimiertsein, der Verzweiflung, die sie immer wieder einholte?
Sie musste diesen Bhagwan kennen lernen.
Ein Schatten fiel auf das Buch. Utz stand vor ihr. „Was liest’n du da?“
„Ach, nichts.“ Sie hatte keine Lust, mit Utz über ihre Entdeckung zu reden.
„Für nichts ist das aber ein ganz schön dickes Buch!“ Mit einem raschen Griff riss Utz ihr das Buch aus der Hand. Wütend trat sie ihm gegen das Schienbein, aber er wich ihr aus. Barfuß wie sie war, hätte der Tritt ihm ohnehin nicht viel ausgemacht.
„Bhagwan Shree Rajneesh!“ Utz lachte, es klang leicht angewidert. „Dieser Rattenfänger! Was willst du denn von dem! Hier, in Rishikesh und in Haridwar, das sind die echten Gurus. Dieser Bhagwan ist doch bloß ein Scharlatan.“
„Du musst es ja wissen, Herr Siebengescheit“, zischte sie ihn an. „Dein toller Guru ist ja nicht mal zu Hause! Ich tu wenigstens was, ich suche nach einem Weg, ich hocke nicht bloß den ganzen Tag am Bus und zieh mir einen Joint nach dem anderen rein!“
„Ach, leck mich doch!“ Utz warf ihr das Buch in den Schoß. „Da hast du deinen Super-Guru. Werde glücklich mit ihm.“
„Das werde ich auch! Glücklicher als du mit deinem Pot!“
Utz ließ ein hohles Lachen hören und trollte sich. Besser so! Jeannie hatte überhaupt keinen Bock mehr auf ihn. Was hatte sie nur an ihm gefunden! Gut, er war derjenige, der schon in Indien gewesen war, er kannte die Transzendentale Meditation, er wollte wieder nach Indien, zum Meister Maharishi. Das war es gewesen, was sie an Utz anzog, was sie zu der Beziehung mit ihm bewogen hatte. Als Mann hatte er sie nie besonders gereizt, und als Mensch auch nicht. Wenn sie ganz ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie Utz benutzt hatte, um hierher zu kommen. Nun war sie hier und brauchte ihn nicht mehr. Zumal er die spirituelle Suche erst mal ganz aufgegeben hatte. Wenn er wenigstens mit ihr zu Maharaji oder zu sonst einem Guru gegangen wäre! Aber so… einen dauerbekifften Freund brauchte sie nicht. Morgen würde sie Nalini fragen, wie man nach Poona kam, und dann würde sie abreisen. Sie würde schon durchkommen.
Und sechs Tage später stieg sie tatsächlich in Poona aus dem Zug. Das Bhagwan-Buch, das Nalini ihr geschenkt hatte, war ein Türöffner gewesen, als sie die drei rot gewandeten Typen auf dem Bahnhof von Bombay sah. Vielleicht hatte auch ihr Aussehen etwas geholfen; sie wusste nur zu gut, wie sie mit ihrer schlanken Figur und den langen Haaren auf Männer wirkte. Auch wenn die auf dem spirituellen Weg waren.
Und als sie in Poona aus dem Zug stieg, war es, als spürte sie die unendliche Liebe Bhagwans, die aus dem Ashram bis hierher drang, um sie willkommen zu heißen. Woher diese Gewissheit kam, war ihr nicht klar. Sie spürte eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann, den sie noch nie gesehen hatte, und wusste, dass er das hatte, wonach sie suchte.
Sajeev stupste sie am Knie an. „He, Süße, aufwachen! Wir sind gleich da.“ Sharani streckte sich und gähnte. „Ich heiße nicht Süße, ich heiße Sharani“, sagte sie und grinste. Sajeev grinste zurück. Er schien ja doch ganz nett zu sein. Immerhin hatte er sie zwei Stunden in Ruhe gelassen. Das war ja schon mal was.
***
Sie saß auf einem der unbequemen Plastikstühle im Frankfurter Flughafen und versuchte gar nicht mehr, die Augen offen zu halten. Sajeev war unterwegs, er wollte noch irgendetwas organisieren und irgendwo anrufen. Sharani war ganz froh, dass er sie für den Moment in Ruhe ließ. So konnte sie ihren Gedanken nachhängen. Gedanken, in denen Johnny wieder im Mittelpunkt zu stehen begann. Den Tag über hatte sie es geschafft, sein Bild zu verdrängen, aber nun, da die Müdigkeit sie wehrlos machte, kam es mit Macht zurück. Dieses Bild, wie er da lag, den Mund halb geöffnet, halb unter der Bettdecke vergraben. Hätte sie versuchen sollen, ihn zu wecken? Wie wäre es, wenn er mitkäme zur Quelle, nach Poona? Wie wäre es, wenn er Sannyas nähme, wenn sie gemeinsam in einer Hütte am Fluss wohnten, gemeinsam meditierten, schwiegen, redeten, tanzten, sängen, Bhagwan lauschten – endlich zusammen lebten?
Unwillig schüttelte sie den Kopf. Nein, das hatte doch alles keinen Sinn. Vergiss die Vergangenheit. Sei im Hier und Jetzt. Alles andere ist irreal. Ja, irreal. Johnny ist irreal. Nein, das stimmte nicht. Natürlich war er real, irgendwo weit weg, in München, bei dieser komischen Gabi. Die Gedanken an eine gemeinsame Zukunft, die waren irreal. Hatte Bhagwan nicht irgendwann gesagt: Sehnsucht ist eine schlimme Krankheit. Sie hält dich davon ab, dich dem Einzigen hinzugeben, was wirklich vorhanden ist: dem Hier und Jetzt? So ähnlich jedenfalls hatte sie es in Erinnerung. Sehnsucht hält dich ab von der Hingabe an die Existenz, hält dich ab von Sharani, von dir selbst. Sie gab ihr Bestes, aber es gelang ihr nur unvollständig. Sie musste Johnny vergessen, das war klar, und gleichzeitig wusste sie, sie würde ihn mitnehmen, wohin sie auch aufbrach.
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