Tilmann Haberer
Sex & Gott & Rock'n'Roll
Band 1: Day Tripper
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenschaut, kennt sie seit achtundfünfzig Jahren. Doch heute sieht Katharina es mit den Augen eines anderen. Wird er sie überhaupt erkennen, nach so langer Zeit? Damals hatte sie noch ihr langes, kastanienbraunes Haar, das erste Grau sorgsam weggetönt. Vergangenheit. Jetzt ist es zentimeterkurz, wie eine Haube schmiegt es sich an den Schädel, betont die Konturen. Und sie färbt es nicht mehr. Wozu auch? So kurz, wie es ist, macht sie das Grau nicht alt, eher wirkt es edel.
Sie trauert ihrer Mähne nicht nach, mit den kurzen Haaren gefällt sie sich viel besser. Das war die Überraschung, als die Chemo im Handumdrehen vernichtete, was bis dahin ihr Stolz war: Ihre Identität hängt nicht daran. Sie braucht die langen Haare nicht, um sie selbst zu sein. Fast ist sie dem Krebs dafür dankbar, dass er ihr diese Lektion verpasst hat. Dankbar? So weit kommt’s noch! „Du spinnst ganz schön, Sharani“, sagt sie zu ihrem Spiegelbild und greift zur Wimperntusche. Als ihr die Wimpern ausfielen, das war schlimm. Aber jetzt sind sie nachgewachsen, fast genauso lang und dicht wie vorher.
Sharani. Wie komme ich ausgerechnet jetzt auf meinen Sannyas-Namen? Sie schüttelt den Kopf. Schaut wieder in den Spiegel. Sharani, das war die lange Mähne, meist gebändigt mit dem Hippie-Stirnband, das war die glatte Stirn, die samtige, faltenlose Haut. Vergangenheit. Falten um die Augen, die feinen Linien zwischen Nase und Mundwinkeln noch nicht zu Gräben, aber zu Furchen vertieft, Fältchen um den ganzen Mund. Ehrlich erworbene Zeichen gelebten Lebens. Nie im Leben wird sie sich irgendetwas unterspritzen lassen, und mit Botox stilllegen erst recht nicht.
Wird er mich überhaupt erkennen? Sie weiß, diese Frage ist reine Koketterie. Natürlich wird er sie erkennen, und wenn sie einäugig und bucklig daherkäme. Er würde ihre Aura spüren, so wie sie seine Anwesenheit unter einer Million Menschen auf Anhieb wahrnähme. Auch nach zwanzig Jahren? Sicher. Auch nach zwanzig Jahren.
Sie erinnert sich an seinen Anruf, schockierend unverhofft, vor neun Tagen. Hier ist Johannes. Und nach einer Schrecksekunde, die sie brauchte, um zu glauben, dass es tatsächlich seine Stimme war, erklärte er, als ob es einer Erklärung bedürfte: Johnny. Dann: Stille. Eine Ewigkeit Stille.
„Johnny.“ Nur sie selbst hörte, wie ihre Stimme zitterte. Nein, auch er spürte es. Natürlich. „Johnny. Ich glaub’s nicht.“ Dann wieder: Stille.
„Geht’s gerade? Hast du eine Minute?“, fragte die Stimme im Hörer, die so vertraute, so lang vermisste Stimme.
„Natürlich!“
Natürlich hatte sie Zeit, alles hätte sie stehen und liegen lassen. „Johnny“, wiederholte sie. „Woher hast du meine Privatnummer?“ Der Anruf kam so unerwartet, dass ihr nichts Besseres einfiel. Sie hörte sein breites Grinsen durch den Hörer. Wie hatte sie es geliebt, dieses Lächeln, das aus seinen Augen strahlte. „Soziale Netzwerke.“
„Soziale Netzwerke? Ich bin weder bei Facebook noch bei Xing oder LinkedIn.“
Sein Grinsen wurde noch breiter. „Ich meine das ganz altmodisch. Alte Kontakte. Recherche. War nicht einfach, zugegeben.“
Ihre Gedanken flogen. Was redest du für ein dummes Zeug. Johnny ruft an, Johnny! Sie atmete aus. Sie wusste doch, wie sie aus dem Gedankenkarussell aussteigen konnte. Spür in die Füße, nimm Kontakt zum Boden auf, zum Atem, sei in der Gegenwart! Allmählich kam sie zu sich.
„Mensch, Johnny! Wie lang ist das jetzt her… zwanzig Jahre?“
„Sogar ein bisschen mehr. Zwanzig Jahre und fünfeinhalb Monate, um genau zu sein.“
Das war er! Dieses Faible für Daten, alles konnte er sich merken. Natürlich wusste er genau, wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, Tag und Stunde.
Wieder entstand eine Pause. Sie hätte ihm so viel zu sagen, aber im Moment fiel ihr überhaupt nichts ein. Außer: „Und wieso rufst du jetzt an, nach mehr als zwanzig Jahren?“ Und schnell, damit keine Missverständnisse aufkamen, setze sie hinzu: „Ich freue mich riesig, das kannst du mir glauben, und ich bin total von den Socken. Aber wieso ausgerechnet jetzt?“
Johnny – Johannes – räusperte sich. „Also, ich werde ja demnächst sechzig, wie du vielleicht weißt.“ Sie wusste es, natürlich. Wie hätte sie seinen Geburtstag vergessen sollen. Auch wenn sie ihm die letzten zwanzig Jahre keine Karte geschrieben hatte, hatte sie jedes Jahr daran gedacht. Und nun war es tatsächlich der sechzigste. Sie wusste es, und trotzdem…
„Und da habe ich angefangen zu überlegen, was eigentlich bleibt. Was in meinem Leben eigentlich wirklich wichtig war.“ Kleine Pause. „Oder besser: wer.“
„Und da bin ich dir eingefallen? Welche Ehre!“ Sie wollte nicht sarkastisch sein. Aber immerhin, zwanzig Jahre hatte er für diese Erkenntnis gebraucht.
Sie hatte den Knopf gedrückt, wie so oft. „Hey, du hast den Kontakt abgebrochen damals.“
Kein Streit jetzt! Nicht in dieser Situation!
„Stimmt.“ Sie lenkte ein. Musste einlenken. Auf gar keinen Fall durfte sie dieses Gespräch in den Sand setzen. „Du hast Recht. Ich habe den Kontakt abgebrochen.“ Und du hast nichts getan, um ihn wieder neu zu knüpfen. Aber diesen Gedanken verbot sie sich. Außerdem hat er es versucht. Mehr als einmal.
Er griff den Faden wieder auf. „Ja, also, natürlich. Du bist mir nicht eingefallen. Es war überhaupt gar keine Frage. Sharani – oder wie soll ich sagen?“
„Ich heiße Katharina.“
Er kommentierte ihre Entscheidung nicht. „Also, Katharina, es war überhaupt keine Frage. Wenn es in meinem Leben einen bedeutsamen Menschen gibt, dann bist du das. Und ich glaube, das weißt du auch.“
Sie spürte, wie sie rot wurde bis unter die Haarwurzeln. Jetzt, nach zwanzig Jahren noch. „Ich habe es immer gehofft. Aber