Von den Göttern verlassen IV. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738026139
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einem leisen Lächeln auf den Lippen.

      Selenas Ohren wurden rot. Woher wusste die Frau, dass sie ihrem Kräutergarten jeden Abend etwas vorsang? Nur leise, sodass es niemand mitbekam. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr von Lucel?“, giftete Selena sie an, um die Verlegenheit abzuschütteln. Sie mochte den Blick nicht, mit dem Lucel die Frau betrachtete. Nur selten bezeugte er so viel Interesse an irgendetwas oder irgendjemandem.

      „Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen! Ich heiße Nadine.“ Das Lächeln war verschwunden, die Tasse in ihrer Hand zitterte leicht, als sich ihre Augen in Lucels bohrten, der ihren Blick ausdruckslos erwiderte.

      „Nadine? Wie die Zauberin in Mamas Gutenachtgeschichte!“, rief Selena verwundert und alle negativen Gefühle verschwanden. Ein aufgeregtes Glitzern ließ ihre Augen glühen.

      Nadine sah verwirrt zuerst zu Selena dann zu Laura, die ihren Blick mit geröteten Wangen, jedoch mit Trotz und Kampfeswillen erwiderte. Sie würde sich nicht dafür entschuldigen und sie bereute es nicht, sagten ihre Augen, während sich ihre Finger in dem Stoff ihres Rockes wühlten.

      „Ich würde diese Geschichte nur zu gerne einmal hören“, erwiderte Nadine mit hochgezogener Augenbraue.

      „Mama erzählte sie jeden Abend, immer etwas anders, aber immer mit den gleichen Figuren. Nadine hat in der Geschichte auch grüne Augen und braune Locken, wie Ihr. Sie hilft, den bösen Zauberer Morphis zu besiegen. Könnt Ihr zaubern?“, fragte Selena aufgeregt. Sie mochte die Vorstellung von Magie, wenn sie auch davon nur in den Märchen ihrer Mutter gehört hatte.

      Nadine verschluckte sich an dem Tee und hustete laut, während sie sich auf die Brust klopfte. Mit hochrotem Kopf und nach Luft ringend saß sie da, als sich ihr Rücken plötzlich durchdrückte und sie wild über die Schultern blickte. Ihre Stirn legte sich in Falten und der kalte Ausdruck in ihren Augen kehrte zurück.

      „Ich habe nicht mehr viel Zeit. Er wird mein Verschwinden entdecken, wenn ich länger bleibe.“ Sie sprang auf, nahm ihre Kette vom Hals, legte sie in Lucels Hand und schloss kräftig seine Finger um den Kristall.

      Lucel versteifte sich.

      „Sie gehören dir. Wir hätten sie dir nie nehmen dürfen. Es gibt noch zehn weitere.“ Nadine holte eine alte, zerknittere Papierrolle aus ihrer Tunika und drückte sie Lucel in die andere Hand.

      „Von denen ich erahne, wo sie sich befinden, habe ich farbige Markierungen auf dieser Karte gemacht. Halte dich von Lila und Gelb so lange fern, wie du kannst! Aber du musst sie alle finden und egal was passiert, suche den Schwarzsilbernen erst auf, wenn du alle anderen hast und dein Herz stark ist. Finde Türkis und Rot zuerst! Sie sind verbittert, haben sich jedoch ihr liebendes Herz bewahrt. Traue weder der Erde noch der Sonne!“

      Nadine stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste sanft und traurig Lucels Wange und flüstere ihm Abschiedsworte ins Ohr: „Vergiss nie, Menschen begehen die schlimmsten Taten aus Angst, nicht Hass. Verzeih uns, wenn du kannst.“ Dann packte sie das belegte Brot, stürmte zur Tür, nahm ihren Mantel und war in der Dunkelheit verschwunden. Kurz, in dem Augenblick eines Wimpernschlages, wurde sie von kleinen Lichtern umschwärmt. Dann war da nur noch die Dunkelheit der Nacht.

      Sprachlos stand die kleine Familie um den Esstisch. Sie alle spürten, dass ihr ruhiges Beisammensein vor ihnen in Scherben lag. Laura brach weinend über dem Tisch zusammen und Selena schrie auf, als Lucel, den Stein und die Karte umklammernd, zu Boden sank.

      ��

       Er saß weinend im Wald. Er hatte jemandem wehgetan, hatte sein Versprechen gebrochen. Würde sie ihn noch lieben? Oder würde sie ihn mit Angst in den Augen ansehen? Die Bäume standen dicht gedrängt aneinander. Ihre Kronen waren so hoch, dass sie den Himmel berührten, Sterne und Mond bedeckten. Alles war schwarz. Die Rinde des alten Baumes, der seit Urzeiten auf dieser Welt am selben Fleck weilte, drückte gegen seinen Rücken.

       Dann hörte er Schritte, fuhr zusammen. Furcht stieg in ihm auf und mit ihr etwas, das er nicht freilassen durfte. Dann sah er sie. Kleine Sterne fielen aus den Kronen der Bäume, umringten ihn, lachten ihn an, küssten seine Tränen weg. Und mit ihnen kam sie. Wunderschön, in ein Meer aus Licht getaucht, von Sternenstaub bedeckt. Die Stellaryphal, vom Volk der Sternenkinder, hatten Nadine, ihre Mutter und Schöpferin zu ihm geführt.

       Er fühlte sich sicher bei ihr. In ihr pulsierte die Reinheit. Sie kniete sich vor ihm hin, strich ihm über den Kopf und nahm ihn in den Arm. Der Schmerz verflog, das Drängen ließ nach. Er war wieder im Gleichgewicht, obwohl er diese Reinheit nicht verdient hatte.

       Der kleine Junge schluchzte und erzählte ihr, was er getan hatte. Sein Mund bewegte sich, doch Lucel hörte die eigenen Worte nicht, wusste nicht, was er getan hatte. Ängstlich, in ihren Augen Abneigung, Vorwurf oder gar Furcht zu sehen, blickte er zu ihr auf. Doch sie lächelte, stricht ihm übers Haar und sagte: „Tut es dir leid?“

       Nachdrücklich nickte er.

      „Dann musst du dich entschuldigen. Hoffen und warten, dass man dir eines Tages vergibt. Es kann dauern. Wenn aber die Reue in deinem Herzen bleibt, wird Vergebung in den Herzen der anderen erblühen. Bei manchen schneller, bei anderen langsamer“, erwiderte Nadine und küsste seine Tränen weg.

      „Vergebung?“, fragte er verwirrt.

      „Nichts kann so schlimm sein, dass es nicht irgendwann vergeben werden kann. Manchmal muss man darum kämpfen, Wiedergutmachungen leisten. Aber wenn man auf dem Pfad der Reue und der Wiedergutmachung bleibt, wird einem verziehen. Wir können uns unsere Fehler schwer selbst verzeihen und sind meist auf die Vergebung anderer angewiesen.“

       Sie hob ihn hoch und trug ihn zurück ...

       Aber wohin zurück? Was hatte ihn so aufgewühlt?

      ��

      Als Lucel erwachte, lag er auf dem Boden, die besorgten Gesichter von Selena, Mutter und Vater über sich.

      „Lucel?“, fragte Selena ängstlich.

      „Mir geht es gut. Es ist nichts“, erwiderte er und richtete sich auf.

      „Du weinst ... “ Wer diese Worte aussprach, wusste er nicht. War es Laura? War es Selena? Seine Hand fuhr zu seinen Wangen. Sie waren nass.

      „Lucel!“, rief Laura heulend und fiel ihn an, warf ihn wieder zu Boden, lag auf seiner Brust und schluchzte.

      Selena beobachtete die Szene mit schmerzender Brust und ihr ekelte es vor sich selbst. Wie konnte sie nur auf ihre Mutter eifersüchtig sein? Sanil nahm seine Tochter an der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Lucel hatte in den neun Jahren, die er bei ihnen war, nicht einmal geweint. Was war nur passiert? Der Stein in seiner Hand hatte geleuchtet, Lucel für einen Augenblick umhüllt, dann war das Licht in ihm verschwunden.

      Laura riss sich von Lucel los, setzte sich auf und half ihm beim Aufstehen.

      „Woran erinnerst du dich?“, fragte sie. Scham lag in ihrem Blick, aber auch Freude.

      „Ich erinnere mich an Nadine. Ich habe sie als Kind gekannt. Es sind nur Bruchstücke, aber ich kenne Nadine.“ Verwirrt starrte Lucel auf den Stein, der farblos in seiner Hand lag. Es fühlte sich an, als hätte er ein Stück von sich wiedergefunden.

      „Noch etwas?“, fragte Laura drängend.

      „Einzelne Bilder aus meiner Kindheit. ... ich habe eine Kindheit!“, Freude und Schmerz wühlten seine Brust auf, „riesige Bäume, die so hoch sind, dass sie den Himmel erreichen. Die Sternenkinder sind von ihren Kronen herabgestiegen, um mit mir zu spielen.“ Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, stieg Zweifel an seinem Verstand in Lucel auf.

      Traurig strich Laura ihm eine Locke aus dem schönen Gesicht und sagte leise: „Egal, was vor dir liegt. Egal, was du von deiner Vergangenheit erfahren wirst, wisse, dass ich dich immer wie mein eigen Fleisch und Blut lieben werde.“

      Lucel blickte in die Augen,