Von den Göttern verlassen IV. Sabina S. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabina S. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738026139
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      Der Mann kratzte sich am Bart. Er erinnerte sich nicht daran, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Gebadet hatte er auch schon länger nicht. Ein Weg, sich zumindest das Kleintier vom Leib zu halten. Seine Kleidung war zerrissen und dreckig, seine Schuhe hatte er vor Jahren weggeschmissen. Wann hatte er das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen? Konnte er überhaupt noch sprechen? Als er es versuchte, kam nur ein Krächzen heraus.

      Vielleicht würde ein Schrecken am Morgen die beiden Jungspunde lehren, vorsichtiger zu sein ...

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      Lucel räkelte sich, als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht berührten und öffnete schläfrig die Augen. Sein Rücken, der weiche Federbetten gewöhnt war, schmerzte ein wenig.

      Dann durchriss ein Schrei die Luft.

      Lucel sprang auf, sah sich überrascht um und entdeckte eine auf der Erde kniende Selena. Tränen des Entsetzen standen ihr in den Augen. Lucel eilte zu ihr und nahm sie in den Arm.

      „Hat dich ein Tier erschreckt?“, fragte Lucel verwundert, während er ihr übers Haar streichelte.

      Sie schüttelte den Kopf, versuchte mehrmals Luft in ihre Lungen zu bekommen, und heulte schließlich stammelnd los: „Pferde ... Gepäck ... alles weg!“

      „Quiver und Salop sind bestimmt nicht weit. Ein Tier hat sie sicher aufgeschreckt und sie haben sich losgerissen.“ Hatten sie die Pferde überhaupt angebunden? Lucel war sich nicht mehr sicher.

      „Von Tieren erschreckt? Ist das deine Antwort auf alle Probleme? Und das Gepäck? Haben sie das auch mitgenommen?“, rief Selena verärgert, schubste Lucel um und warf ihm einen giftigen Blick zu, als er leise erwiderte: „Möglich wäre es schon.“

      Selena lief mit tränennassen Wangen im Kreis herum, sank dann auf die Knie und heulte so laut, dass die Bäume erzitterten: „Wir werden sterben! Verhungern, verdursten. Von wilden Tieren zerfleischt werden. Ich will noch nicht sterben!“

      Ein verächtliches Schnauben kam aus den Bäumen und ihr Gepäck landete mit einem Plumps auf dem Boden. Ihm folgte ein menschenähnliches Wesen.

      Selena und Lucel starrten es verwundert an. Es öffnete seinen Mund und ein Krächzen kam heraus. Dann räusperte es sich und sprach mit heiser Stimme: „Ich wollte euch eine Lektion erteilen, aber dein Geheule und Geschreie wird den ganzen Wald aufwecken. Es gibt Wesen, die man besser schlafen lassen sollte.“

      Selena eilte zu dem Gepäck, sammelte es auf, drückte es an die Brust, warf dem Wesen einen giftigen Blick zu und rief aufgeregt: „Was hast du mit Quiver und Salop gemacht, du Unmensch!“

      „Unmensch?“ Das Wesen kam ganz nahe an Selena heran und keifte: „Wenn ich ein Unmensch wäre, hätte ich euch im Schlaf die Kehle aufgeschlitzt und eure Leichen den Wölfen, Bären und Ghröfle überlassen.“

      Selenas Augen füllten sich mit Angst und ihre Hand fuhr zu ihrem Hals.

      „Da ich aber kein Unmensch bin, habe ich euch lediglich eine Lektion erteilt. Wer euch zwei Grünschnäbel so unvorbereitet auf die Welt losgelassen hat, will wohl euer schnelles Ableben“, sagte der Mann mit krächzender Stimme, als hätte er eine lange Zeit seine Stimmbänder nicht benutzt. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht und ließen nichts erkennen außer Schmutz.

      Ein furchtbarer Gestank stieg Selena in die Nase. Sie hielt sie sich zu und drehte sich angewidert weg.

      „Kehrt zurück zu eurem kuscheligen Nest und Mama und Papa. Kinder, wie ihr, haben nichts in der Wildnis verloren.“ Er schnaubte laut.

      Selena drehte sich wütend mit zugehaltener Nase um und öffnete den Mund, um dem frechen Kerl die Meinung zu geigen, als Lucel herantrat.

      „Wir waren wirklich recht unvorsichtig und sind unerfahren. Wir danken Euch für Eure gütige Lektion und erbitten die Herausgabe unserer Pferde. Wenn Ihr uns noch sagen könntet, wo Norden liegt, seht Ihr uns nie wieder. Seid jedoch unserer ewigen Dankbarkeit versichert.“

      Selena vergaß sich die Nase zuzuhalten und starrte Lucel ungläubig an. Sie hatte ihn noch nie so viel auf einmal sagen hören und dann auch noch so höflich!

      Das Wesen, nach Selenas Beobachtungen wohl ein Mann, wich ein paar Schritte zurück, verkrallte die linke Hand in dem zerrissenen Stoff an seiner Brust und starrte Lucel entgeistert an. Dann schallte ein freudiges Lachen durch den Wald. Die gebückte Gestalt richtete sich auf.

      „Gut gesprochen, Grünschnabel! Wie heißt du?“ Seine Stimme war nun tief und angenehm, das Krächzen war völlig verschwunden.

      „Lucel. Das ist meine Schwester Selena“, antwortete er und blickte den Mann unverwandt an. Etwas an ihm zog ihn an, erweckte eine Unruhe in seiner Brust, die sonst nur Müdigkeit kannte.

      „Nun gut, wartet hier! Ich hole eure Pferde und ein paar meiner Sachen. Ich bringe euch durch den Wald“, sagte der seltsame Fremde und verschwand zwischen den breiten Stämmen der hohen Bäume.

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      Der Weg war lächerlich kurz und lächerlich einfach. Selena sah nach drei Stunden Fußmarsch, während dem sie die Pferde am Halfter führten, bereits den Waldrand. Lucel schien keine Scham zu kennen und bedankte sich bei dem Fremden, der ihnen nicht einmal seinen Namen genannt hatte. Dieser nickte einfach nur bei Lucels Worten und machte keine Anstalt umzukehren.

      „Ich werde euch bis zur nächsten Stadt begleiten. Wollte eh meine Vorräte aufstocken“, sagte der Mann und kratzte sich am Kopf.

      „Was?“, rief Selena überrascht und gar nicht erfreut.

      Lucel erstarrte bei der Unhöflichkeit seiner Schwester und stieß sie mit dem Ellenbogen an.

      „Was denn? Er stinkt! Egal wohin ich meine Nase drehe, rieche ich nur seinen Gestank! Ich halte das keine Stunde länger aus, ohne mich zu übergeben“, rief sie aufgebracht mit hochrotem Kopf.

      Lucel rümpfte ebenfalls leicht die Nase, aber das Entsetzen in seinen Augen über ihre Worte grub sich in Selenas Herz und sie schaute peinlich berührt weg.

      „Wir kennen nicht einmal seinen Namen“, murmelte sie wie ein bockiges Kind.

      Zu ihrer Überraschung lachte der Fremde und sagte: „Wenn das die einzigen Einwände sind, lässt sich das schnell beheben. Ihr könnt mich Aren Leshin nennen. Und was den Geruch betrifft, nicht weit von hier fließt ein kleiner Bach, wenn ihr mir zwanzig Minuten gebt ... “

      „Mach eine Stunde daraus!“, erwiderte Selena, setzte sich auf den Boden, wo sie stand, und holte etwas zu Essen aus ihrem Rucksack hervor.

      Lucel schüttelte den Kopf, suchte einen Platz, um Quiver und Salop anzubinden, und gesellte sich zu ihr, auch wenn er nichts aß. Er hatte sich schon immer gefragt, wo Selena all das Essen nur verstaute, das sie in sich hineinschaufelte.

      Sie war rank und schlank, nur an gewissen Stellen hatte sie in den letzten Jahren zugenommen. Seine Augen irrten zu ihrem Busen, seine Wangen röteten sich und Lucel wandte schnell den Blick ab. Wuchsen alle Mädchen, die viel aßen, nur dort? Er schüttelte den Kopf. Im Dorf hatte er schon dicke Frauen gesehen, die weniger aßen als Selena.

      Etwas musste mit ihrem Körper nicht stimmen.

      Von dem vielen Denken angestrengt, legte Lucel sich hin, schaute in den blauen Himmel und schlief nach wenigen Minuten ein.

      Doch kaum hatte er die Traumwelt betreten, rüttelte Selena an ihm. Ihre Hände zitterten. Ihr Atem ging vor Aufregung schneller. Alarmiert sprang Lucel auf und wünschte sich, er hätte eine Waffe mitgenommen. Wieso hatte er keine Waffe mitgenommen? Auch wenn er nicht damit umgehen konnte, würde sie wenigsten ein paar Gauner abschrecken.

      Ein Mann in einer blauen Tunika, die etwas aus der Mode gekommen war, aber perfekt an ihm saß, stand vor ihnen. Er trug schwarze Stiefel und noch nie gesehene Augen glitzerten