„Niederste Kreatur, die auf dieser Erde kriecht, musst du ihren Körper in Leben und Tod schänden?“ Mikhaels Stimme bebte unter der Wucht seiner Gefühle. Er war wütend auf den Senjyou, war es immer gewesen. Jetzt brach die Wut die Beschränkungen, die er sich um Serenas willen auferlegt hatte, und seine Fäuste landeten im Gesicht des schönen Königs, der die Bestrafung dankbar annahm.
Sie war wegen ihm gestorben. Er hatte das und mehr verdient. In dem nebelhaften Verstand seiner Agonie erreichte die Bedeutung der Worte nur sehr langsam Malhims Geist.
„Du hast geschworen, auf sie zu achten. Du hast versprochen, sie zu beschützen. Ich hätte sie dir nie überlassen dürfen.“ Mikhael spuckte aus und drehte sich um. Der Stahl seiner bepanzerten Stiefel stieß mit dem Boden zusammen und der Klang warf sich gegen die niedrige Decke und die engen Wände, wollte sich aus dem kleinen Gefängnis befreien, in dem es kälter war als am nördlichsten Punkt des Schneelandes.
Die Kälte würde den Körper für immer vor dem Verfall schützen. Zu einer Eisskulptur gefroren, lag er leblos da. Mikhaels Hand strich die kalte Wange entlang. Sie war noch so jung.
Sein Innerstes zerwühlte sich. Selbstvorwürfe, stärker als der Hass gegen Malhim, krochen ihm durch die Eingeweide. Ihm wurde schlecht, wenn er an Serenas Seele dachte.
Gefangen in dem leblosen Körper.
Alleine.
Ob sie ihn spürte?
Ob sie irgendetwas wahrnahm?
Wäre ein endgültiger Tod nicht besser als dieses Dahinvegetieren zwischen Leben und Tod?
Mikhael strich über die Lippen, die schon seit Jahren nur noch seine Wange berührt hatten, während seine sich nach ihnen verzehrten. Er hatte andere geliebt, doch auch wenn er nie bei Serena gelegen war, ihren Geschmack nur von unschuldigen Küssen kannte, war sie doch alles, was er wollte. Sein Engel, der ihm sein Leben gerettet hatte, nur um es in die Hölle der unerfüllbaren Verzehrung zu stoßen.
Wenn er es gewesen wäre, der sie mit Gewalt genommen hätte, und nicht Malhim ... Wenn Lucel sein Sohn wäre und nicht Malhims, wäre Serena dann noch am Leben? Wirklich am Leben? Wären ihre Wangen rosig und würden ihre Augen ihn anleuchten, während ihr Lachen durch die Wälder schallte?
Doch Wünschen und Denken halfen nicht, änderten nichts an ihrem Zustand, der schlimmer war als der Tod. Ein hysterisches Lachen entriss sich seiner Kehle. Der Tod war nicht endgültig und grausamer als alles, was sie ihr angetan hatten. Serena durfte Mutter nicht in die Hände fallen. Keiner von ihnen konnte eins werden mit der Erde, die alle verstorbenen Seelen in sich sammelte. Um Lucels willen nicht und um der Landen willen nicht.
Mikhael strich über Serenas Haar und hoffte, dass sie träumen konnte. Dann schweifte sein Blick zu dem am Boden zusammengekauerten Häufchen Elend, das ausdruckslos auf den Boden starrte. Er drehte sich um und ließ den verdammten Raum hinter sich. Ein kaltes Gefängnis. Serenas Grab und doch würde sie hier keine Ruhe finden. Keiner von ihnen würde das.
Die anderen standen vor der Grabkammer. Niemand hob den Blick aus Angst vor dem, was sie sehen würden: Vorwürfe, das Spiegelbild ihrer eigenen Anklagen. Mikhael reihte sich in den Kreis, den sie um den kleinen Körper gebildet hatten. Zu klein und zu zerbrechlich für einen 14-jährigen Vostoken, aber zu stämmig und zu weit entwickelt für einen Senjyou.
Mikhael umklammerte den Kristall in seiner Hand. Er war glatt und kalt, wie Serena.
Malhim trat mit blutendem und aufgeplatztem Gesicht an seinen Platz. Sein Herz verkrampfte sich und Zweifel, der sich in den Gesichtern aller wiederfand, regierte in Malhim.
Taten sie wirklich das Richtige?
Ein Seelentransfer wie bei Molly, Aragar und Salmon war ihnen nicht gelungen. Sie hatten es so lange diskutiert und aufgeschoben wie möglich. Doch es gab keinen anderen Weg. Nicht im Moment. Wie bei Serena, konnten sie auch bei Lucel nur Zeit gewinnen. Malhim musste mit Schaudern an die Experimente denken und die furchtbaren Ergebnisse, die er tief in seiner Seele vergraben hatte und die ihn doch nicht ruhig schlafen ließen.
Sein Blick fraß sich voller Liebe in die kleine Gestalt. Eine Hand glitt in die Tasche seiner Tunika, holte den farblosen Stein hervor und hielt ihn liebkosend zwischen seinen Handflächen.
Halifs tiefe Stimme erhob sich, seine Stirn glänzte vor Schweiß, als der kleine Körper glühte. Kurz bevor sein Gesang brach, stimmte Nadine ein. In ihrem Lied klang Widerwille mit. Bis zum Schluss war sie gegen das Ritual gewesen, hatte sich aber der Mehrheit gebeugt. Dann erklang Harils Stimme. Der Dreiergesang zerrte an dem kleinen Körper, saugte ihn aus.
Vor Malhims Augen schrumpfte die fleischliche Hülle seines Sohnes, als ihm alles gestohlen wurde, was ihn ausmachte.
Nadines Worte klangen in seinem Geist: „Was ist ein Mensch ohne Erinnerungen? Erinnerungen und Erfahrungen formen seinen Geist, seine Seele, sein Ich. Ohne sie ist er leer, wie ein weißes Blatt Papier. Nichts, was ihn ausgemacht hat, nichts, was wir an ihm lieben, wird mehr sein. Er wird nicht mehr Lucel sein.“
Genau das wollte Malhim.
Genau so musste es sein, redete er sich ein. Lucel wäre nicht mehr sein Sohn. Er wäre weder der Halbling, der den Senjyouthron besteigen sollte, noch der Vernichter der Welt. Nur ein kleiner Junge, der die Chance auf ein normales Leben bekam. Er wäre ohne Schmerzen und ohne Hass, denn er würde sich weder an seine Mutter erinnern, noch an den Mord, dessen alleiniger Zeuge er geworden war.
Wut stieg in Malhim auf. Wer war es gewesen? Wer hatte seine große Liebe aus dem Leben gerissen? Seine Sonne zum Verlöschen gebracht? Nur Lucel kannte diese Antwort, denn er hatte den Mörder zu Staub verbrannt. Ihn und einen ganzen Landstrich in seinem Schmerz ausgelöscht.
Hass und Trauer kämpften mit Angst.
Malhim wusste, dass sein Sohn mächtig war, doch Halifs Nullifizierungsschild hatte es ihn und alle anderen vergessen lassen. Wäre Phynissia nicht eingeschritten und hätte ihn nicht in Schlaf versetzt, wären sie alle verloren gewesen. Für einen kurzen Augenblick fühlte er Bedauern. Bedauern darüber, dass er noch lebte. Dass die Landen weiter existierten, obwohl Serena nicht mehr Teil von ihnen war.
Vergessen.
Er wünschte sich, er könnte vergessen.
Nicht Mitleid, sondern Neid lag in den Augen des Vaters, als er seinen Sohn schwinden sah. Doch Malhim durfte nicht vergessen. Nicht, bis es eine Ordnung gab, die den Toten erlaubte zu ruhen. Denn in einer Welt, in der die Toten nicht ruhten, konnte es kein Ende geben, keinen Frieden. Denn ihr Zorn, ihre Wut, ihr Hass und ihr Schmerz weilten ewig und hatten sich in Mutter manifestiert. Ein Bewusstsein, dazu verdammt, zu beobachten, zu leiden und nicht zu vergessen.
Deswegen durfte Serena nicht sterben und war gefangen im untoten Dasein, die Zeit für sie eingefroren, bis jemand eine Lösung fanden. Würde auch nur einer von ihnen Teil von Mutter, wäre alles vorbei. Deshalb durften und konnten sie nicht sterben. Keiner von ihnen. Doch seinem Sohn konnte Malhim das Vergessen schenken, das er so sehr für sich wünschte.
Dann wurde die Höhle dunkel. Licht zerfloss im Schatten und Schatten im Licht. Bilder, Gefühle, Farben, Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse schossen aus dem bewusstlosen Körper des kleinen Jungen heraus. Ballten sich zusammen, glühten in aller Pracht. Die Guten wie die Bösen verknoteten sich zu kleinen Wirbelstürmen. Voller Reue in dem Moment des Aktes hoben sie alle die leeren Kristalle über ihre Köpfe, riefen die Erinnerungen und die Wirbelstürme wurden in zehn Kristalle gesogen.
In der eigenen Farbenpracht gefangen, leuchteten:
Kinderlachen und Kinderweinen
Die ersten Schritte
Der erste Kuss
Zuneigung