Verächtlich verzog Selena das Gesicht. Niemand von ihnen hatte Lucels Großartigkeit gesehen, bevor er, der schmächtige Junge, der immer nur apathisch in die Gegend glotzte oder schlief, Marikal die Stirn geboten hat.
Marikal war der größte Junge im Dorf und ein bulliger Macho, dem es Spaß machte, Kleinere zu ärgern, vor allem Mädchen. Eines Tages hatte er Selena zu seinem Opfer auserkoren und sie so lange an den Zöpfen gezogen, bis sie weinte. Lucel war in aller Ruhe zu ihm hingegangen, hatte ihn am Hals gepackt und solange in der Luft gehalten, bis Marikal keuchend um Verzeihung bettelte.
Er war der Held des Tages, der Schule und vor allem Selenas Held gewesen. Selena hatte nie wieder Probleme mit Marikal oder irgendeinem anderen Jungen. Und an jenem Tag war in ihren Augen ihr kleiner Ziehbruder von einem folgsamen Hündchen, das dem kleinen Mädchen überall hin folgte, zu einem begehrten Objekt des anderen Geschlechtes geworden. Sie hatte sich doch tatsächlich mit sieben Jahren in den kleineren, verträumten Lucel verliebt.
Eine Schwärmerei, aus der sie mit den Jahren hinauswachsen würde, pflegte sie sich zu sagen und huldigte Lucel in aller Stille an ihrem geheimen Schrein, ohne ihm ihre Gefühle zu gestehen. Sie wartete jeden neuen Frühling darauf, dass ihr Herz nicht mehr verräterisch klopfen und sie nicht bei jeder Berührung zusammenzucken würde. Doch in den neun Jahren wuchs Lucel, überholte Selena und wurde zu einem attraktiven Jungen, der nicht mehr nur ihr Herz höher schlagen ließ.
Selena machte sich schnaubend von Lucel los und stampfte, dicht gefolgt von ihrem Stiefbruder, zu dem Holzhaus, das sich auf einer Anhöhe im kleinen Dorf Krem befand. Ungeduldig wurde sie von Frau Schimmerlin empfangen, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch den Schülern mit schwingender Rute hinterherrannte.
Sie zeterte laut vor sich hin und scheuchte die beiden Zuspätkommer durch die Tür in den Klassenraum. Alle Stühle waren besetzt, viele Eltern standen. Laura Oberson jedoch saß auf ihrer alten Schulbank in der ersten Reihe und winkte ihren beiden Kindern aufgeregt wie ein kleines Schulmädchen entgegen.
Selena blickte peinlich berührt zur Seite, während Lucels Augen in einem ungewohnten Glanz erstrahlten.
Wie schon so oft fragte sich Selena, wie sie mit ihrem ruhigen, würdevollen und eleganten Wesen nur von dieser kindischen Person abstammen konnte? Ein leiser Zischlaut entschlüpfte ihren Lippen, als Lucel lächelnd zurückwinkte. Das musste ein Irrtum sein. Lucel war Lauras leiblicher Sohn und Selena war eine weit entfernte, adoptierte Cousine, nicht umgekehrt.
Ein Blick in Lucels schläfriges Gesicht sagte Selena, dass sie wieder die Stunden, in denen sich Frau Schimmerlin in Rage reden und gerührt von ihren eigenen Worten weinen würde, damit verbringen durfte, Lucel mit Elenbogenstößen wachzuhalten. Wie konnte man nur so viel schlafen? Ergeben in ihr Schicksal, stellte sie sich neben die anderen drei Absolventen und hielt ihren Ellbogen bereit. Wie gelang es Lucel nur im Stehen einzuschlafen?
Für das kleine Dorf Krem war das Haus der Obersons so groß wie ein Anwesen. Als Merez Oberson die Aufgabe des Obermeisters seinem Schwiegersohn überließ, zog er mit seiner Frau aus dem Hauptgebäude in ein Nebenhaus. Wie so oft, aßen sie auch heute alle gemeinsam zu Abend. Merez und Linda, Laura Oberson mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Dass Lucel nicht ihr leiblicher Enkel war, ließen sich die stolzen Großeltern nicht anmerken. Nach dem Essen verabschiedeten sie sich und Laura machte es sich wie immer mit ihrem Mann, Selena und Lucel vor dem Kamin bequem.
Selena würde es nie offen zugeben, aber sie liebte diesen Moment. Wie Kinder lümmelte sie sich mit Lucel auf den Fellen am Boden vor dem Kamin. Obwohl sie bereits Spätfrühling hatten, waren die Abende noch kühl und die Nächte kalt.
Selena starrte ins knisternde Feuer, beobachtete die Flammen bei ihrem Tanz, während Lucel mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und vermutlich schlief. Sicher konnte man sich da nie bei ihm sein. Er erinnerte Selena an einen großen, zotteligen Hund oder einen toten Käfer, wenn er so auf dem Rücken lag, alle Viere von sich gestreckt. Manchmal musste sie bei dem Anblick auch an eine hilflose Schildkröte, die auf dem Rücken lag und sich alleine nicht umdrehen konnte, denken.
Sanil Oberson, der den Namen seiner Frau angenommen hatte, einfach weil Laura den Klang Oberson besser gefiel als Wandik, lag ausgestreckt auf dem Sofa, während seine Frau im Schaukelstuhl saß und wieder einmal etwas strickte. Auch wenn der Winter vorbei war, würde der nächste mit Sicherheit kommen, pflegte sie zu sagen. Es dauerte nie lange, bis Laura mit dem Geschichtenerzählen begann. Auch heute nicht. Mit einem Lächeln der Erinnerung auf den Lippen räusperte sie sich und entführte die Familienmitglieder in eine fremde Welt.
Lucel spitzte seine Ohren, Selena kuschelte sich tiefer in das Bärenfell und Sanil legte sein Buch zur Seite, um der schönen Stimme seiner Frau zu lauschen. Sie alle kannten die Geschichte. Hatten sie schon tausendmal gehört. Und doch freuten sie sich jeden Abend darauf.
„Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem abgelegenen Dorf ein junges Mädchen namens Serena. Da ihr Vater verschwand, als sie noch sehr klein war, wohnte sie alleine mit ihrer Mutter in einer Hütte am Dorfrand. Obwohl Serena mit ihren schwarzen Locken und Augen in der Farbe des Himmels eine wahre Schönheit war, mieden die Dorfbewohner sie. Denn sie war immer ernst, lachte nie und weinte nicht. Alara, Serenas Mutter, war eine große Heilerin und hatte schon so manches Leben in dem kleinen Kreis der Gemeinschaft gerettet. Dennoch mieden die Bewohner auch sie, da auch sie nie lachte und nicht weinte. Doch die beiden machten sich nichts aus menschlicher Nähe und lebten in Ruhe vor sich hin.
Eines Tages jedoch kam ein Fremder mit einem Mädchen ins Dorf. Sie war klein und stämmig, hatte Haare rot wie Feuer und Augen so grün wie Gras. Wie ein dressierter Hund, folgte sie dem Mann überall hin. Denn sie war nichts anderes als eine abgerichtete Sklavin und so behandelte der Mann sie auch. Wenn er wütend war, schrie er sie an, wenn er betrunken war, prügelte er sie.
[Selenas Herz klopfte wütend und wie immer biss sie bei dieser Ungerechtigkeit in den nächstbesten Gegenstand. Heute war es das Fell, in das sie sich gekuschelt hatte. Haare klebten an ihrer Zunge und sie röchelte leise, als ein paar ihr in den Rachen rutschten. Lucel lachte leise und Laura reichte ihrer Tochter ein Glass Wasser, ohne in der Geschichte innezuhalten.]
Serena wurde seit dem Verschwinden ihres Vaters von einem kleinen, runden Mann namens Zorghk, der alleine tief im Wald lebte, in der Kampfkunst unterrichtet. So war Serena stark und wusste sich zu wehren. Als sie sah, wie der Mann auf das am Boden liegende Mädchen mit der Peitsche einschlug, konnte sie nicht an sich halten und eilte zur Rettung des armen Geschöpfs. Der Mann fiel bei dem Handgemenge zu Boden, schlug mit dem Kopf auf einen spitzen Stein und blieb reglos am Boden in seinem eigenen Blut liegen.
Doch Serenas Herz kannte kein Mitleid für ihn. Sie ließ ihn, wo er war, und brachte das schwerverletzte Mädchen zu Zorghk, ihrem Lehrmeister. Als er den Rücken des kaum noch atmenden Mädchens sah, schickte er nach Alara. Nur mit Mühe gelang es Serenas Mutter die Verletzte dem Tode zu entreißen. Die Sklavin würde leben. Doch ihr Herr war tot. In manchen Augen mag das Gerechtigkeit sein, doch nicht vor dem Gesetz, das wusste Zorghk und drängte Serena, mit dem Mädchen noch in derselben Nacht zu fliehen.
Gemeinsam liefen sie Tage und Nächte durch den dunklen Wald, der seit jeher das kleine Dorf umgab, immer in der Angst, verfolgt und gejagt zu werden. Das Mädchen war aus der Rasse des Bergvolkes und lebte seit seiner Geburt bei den Vostoken als Sklavin. Ohne Rechte, ohne Stimme, ohne Namen. Serena taufte sie Aira und versprach, sie zu ihrem Volk zu bringen, wo sie in Freiheit und Frieden leben könnte.
Am fünften Tag erzitterte der Wald vor wildem Geheule. Ein Rudel Wölfe hatte die Spur der Mädchen aufgenommen. Serena nahm die kurzbeinige Aira huckepack und lief so schnell ihre Beine sie trugen. Doch sie hatte keine Chance, den wilden Tieren zu entkommen. Nur mit einem Stock bewaffnet, stellte sich Serena den hungrigen Bestien entgegen. Doch trotz ihrer Kampfausbildung hatte sie keine Chance. Als gerade einer seine scharfen Zähne tief in Serenas