Na ja.
Mit schnellen Schritten geht Steven an mein Bett heran und ich schalte den MP3-Player aus.
“So, Henny”, meint er zu mir, während er an dem Behälter, in dem das Medikament war, herumfingert und den Katheter überprüft,
“das war die Chemo für heute.”
Ich nicke ihm zu. Ja, das weiß ich schon…
Ich will jetzt zu Paul und ihm alles erzählen.
Über Tibor, seine Band, die Stimme, die er nicht finden kann - ja, und über die Puszta auch.
I. 4.
Inzwischen ist Freitag und ich gehe zwar gerade nicht durch den Fasa-, dafür aber durch den Krankenhauspark. Dabei atme ich sorgfältig die kühle, klare Luft ein und aus.
Heute geht es mir gut, doch die letzten beiden Tage waren wirklich hart. Plötzlich bekam ich wieder heftige Magenschmerzen, gegen die nur absolute Hammerschmerzmittel Wirkung zeigten.
Von den Dingern wurde ich müde und benommen. Dr. Wegener verordnete mir Bettruhe und so wurde nichts aus einem weiteren Besuch beim Rotwild im Fasa-Park.
Stattdessen lag ich auf meinem Kissen rum und fühlte mich total weggetreten. Selbst Musik drang nicht mehr so richtig zu mir durch,
aber wenigstens waren die Schmerzen weg.
Paul allerdings geht es in diesen Tagen noch viel schlechter.
Ich selbst bin heute ja wieder einigermaßen fit, doch bei ihm wird es immer schlimmer. Erst heute morgen hab ich auf dem Gang seine Eltern darüber sprechen hören, ob sie ihn mit nach Hause nehmen sollen.
Im Krankenhaus können sie - außer Medikamente gegen die Schmerzen geben - derzeit kaum was für ihn tun.
Es muss endlich ein passender Spender gefunden werden.
Pauls Freunde haben nen Typisierungsaufruf im Internet, damit sich möglichst viele Leute untersuchen lassen, gestartet und ich hoffe,
dass jemand dabei ist, der als Spender in Frage kommt.
Die Chancen bei so was sind zwar nicht besonders hoch, aber wer weiß. Vielleicht sollte ich nicht immer so pessimistisch sein und an allem zweifeln. Nein, ich glaube ab jetzt ganz fest daran, dass man einen Spender für Paul finden wird. Es wird in ganz Deutschland und sogar weltweit gesucht. Zum Glück gibt’s ja die DKMS. Die suchen überall nach Spendern und oft finden sie auch jemanden; mitunter sogar von ganz weit her. So kennen wir einen - ehemaligen - Patienten, der war erst letztens wieder zur Nachsorge hier im Krankenhaus, für den ein Spender im australischen Queens gefunden wurde.
Da saß der genetische Zwilling also am anderen Ende der Welt.
Wenn doch aber auch für Paul endlich ein Spender gefunden würde!
Seine Eltern haben ihn jetzt tatsächlich mit nach Hause genommen
und dort wird er vorerst auch bleiben.
Nur noch rumliegen, und warten könne er schließlich genauso gut zu Hause - das hat er selbst gesagt.
Für mich ist das aber ziemlich schwer. Nun hab ich im Krankenhaus niemanden mehr; keinen Freund, wisst Ihr.
Vielleicht sind Paul und ich ja noch nicht mal wirkliche Freunde, doch wir verstehen uns schon ziemlich gut und wir haben viel Zeit miteinander verbracht.
Ich fühl mich total schlecht, wenn ich an Paul denke; beunruhigt und so was von beklommen. Ich hab solche Angst, dass er sterben wird,
aber irgendwie kann ich diesen Gedanken auch kaum an mich heranlassen. Nein - Paul schafft das. Er ist so schön, stark, selbstbewusst und obendrein auch noch lustig, schlagfertig und klug…
Ja, das versuche ich mir immer zu sagen, aber ich weiß ja, dass eine Krankheit keine Rücksicht darauf nimmt, wie toll einer ist.
Nee, wenn man diesen Krebs nicht in den Griff bekommt, dann ist es eben vorbei - egal wie schön, stark oder klug man ist.
Wisst Ihr, ich bewundere Paul aber so sehr und außerdem hat er mir ja auch den Namen der kleinen Stadt in der Puszta, wo Tibor wohnt, verraten: Tiszafüred.
“Das liegt mitten in der Großen Tiefebene und einen See gibt’s dort auch; den Tisza-To. Das ist immerhin der zweitgrößte See in ganz Ungarn und die Theiß ist der zweitgrößte Fluss. Auf ungarisch heißt sie Tisza und Tiszafüred heißt übersetzt soviel wie Bad Theiß.
Da war ich zweimal mit meinen Eltern. Ich könnte sie fragen, ob sie mir die Fotos auf meinen Laptop rüberschicken”, hat er gesagt.
Ich nickte begeistert. “Ja, das wär cool.”
“Na dann”, Paul lächelte mir zu, “frag ich sie heute. Nachher kommen sie ja sowieso noch hierher.”
Ich merkte, dass er versuchte wie immer zu klingen, doch das Sprechen strengte ihn ziemlich an.
Ich erzählte Paul von Tibor und Paul meinte, ja, der könnte ihm gefallen. Allerdings soll ich aufpassen, dass Tibor kein richtig arrogantes Arschloch wird, sondern bloß jemand, der schön und stark ist und in sich selbst ruht.
Ich hätte Paul das gern versprochen. Doch irgendwie hab ich das Gefühl, dass Tibor, wenn er schon kein Arschloch, zumindest aber auch kein richtig feiner Kerl ist. Oder doch…?
Ich weiß es wirklich nicht. So gut kenn ich ihn ja noch nicht.
Im Moment allerdings hab ich eher den Eindruck, dass Bescheidenheit oder gar Demut nicht zu Tibors hervorstechenden Eigenschaften gehören.
“Ach, egal”, murmelte Paul, nachdem ich ihm das erzählt hatte, “das war auch nicht so unbedingt meine Sache…“
Seine Stimme wurde immer leiser und undeutlicher.
Ich hätte ihm gerne noch erzählt, dass Tibor ihm so ähnlich sieht,
doch ich kam nicht mehr dazu, denn mitten im Gespräch war Paul plötzlich eingeschlafen. Er ist ja so schwach im Moment.
Ich stand leise auf und ging und mit einem ziemlich bekommenen Gefühl hinaus.
Jesus, wir müssen einen Spender finden, dachte ich.
Ich hatte wieder solche Angst, dass es keinen geben würde.
Besonders beunruhigte mich in dem Moment auch, dass Paul soeben in der Vergangenheit von sich gesprochen hatte.
“…das war auch nicht so unbedingt meine Sache”.
War…
Warum bloß hatte er“ war“ gesagt?
Hat er das Gefühl, nicht mehr zu sein? Und wenn das so ist - ist das dann so, weil er sich schon aufgegeben hat? Kann er die Schmerzen und all die Warterei nicht mehr länger ertragen und will einfach nur noch seine Ruhe? Und nicht mehr spüren, wie das Leben nach und nach aus ihm weicht…
Wenn er noch kraftloser wird, ist er für eine Transplantation zu schwach. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit… Ich schüttelte energisch den Kopf.
Nein, das alles ist ganz anders.
Paul hatte von sich in der Vergangenheit gesprochen, weil er jetzt eben nicht mehr so ist. Genau, er hat damit bloß gemeint, dass er sich verändert hat. Durch die Krankheit oder auch durch irgendwas völlig anderes. So muss es sein…
Und obwohl diese Erklärung ja noch nicht mal allzu hanebüchen oder aus der Luft gegriffen klang, glaubte ich trotzdem nicht so recht daran.
Er könnte es ja tatsächlich auch anders gemeint haben…
Ängstlich