Lustlos wie ich im Moment bin macht mir das zwar noch nicht mal was aus. Ich muss bloß so oft daran denken, was mir ein paar Andere hier auf der Station erzählt haben: nämlich dass diese Konzentrationsstörungen selbst lange nach der Behandlung bleiben und oft auch nicht mehr viel besser werden… Irgendwie geht dieses Zytostatika-Zeug wohl auch aufs Gehirn, glaub ich. Na ja.
Ich stelle nun meinem MP3-Player an. Ich höre gerade A Midwinter Night`s Dream von Loreena McKennitt.
An für sich ist das ja n Weihnachtsalbum doch was soll’s.
Erstens hör ich immer, worauf ich gerade Lust hab und zweitens leb ich im Dezember ja vielleicht gar nicht mehr…
Okay, so genau weiß keiner, wie lange er noch lebt, aber ich hab im Moment ja nen Anlass, um an so was zu denken.
Während ich hier auf dem Bett liege, Musik höre und leise vor mich hinsumme, vergeht etwas Zeit und plötzlich taucht er wieder auf.
Wer? Na ja, wisst Ihr, es ist ein Junge, etwas jünger als ich vielleicht.
Ich weiß nicht so genau, ob ich ihn erfunden hab, oder ob er mir irgendwie geschickt wurde.
Es ist sehr einsam, allein zu sein und darauf zu warten, dass die Chemo durchläuft. Ich wünschte, ich würde das Zeug in Tablettenform bekommen können…
Nun aber bricht dieser Junge in meine Einsamkeit hinein.
Als ich vor ein paar Tagen nicht schlafen konnte, war er das erste Mal da. Ich hatte gerade solche Angst davor, nicht wieder gesund zu werden und zu sterben. Nachts, wenn es still und dunkel ist, ist es besonders schlimm.
Ich schaltete meinen Mp3-Player ein und plötzlich; mitten in Porcupine Tree`s Sleep together auf der Fear of a blank planet, ist er hinein gebrochen. Allerdings verschwand er ebenso schnell wieder, wie er gekommen war…
Ja, er tauchte ab; zurück in die Tiefen meines Unterbewusstseins und dort blieb er fürs erste auch.
In der Nacht, in der er zum ersten Mal kam, war ich aber von meinen Gedanken an den Tod abgelenkt und konnte schlafen.
In den nächsten Tagen blieb der Junge verschwunden, doch nun ist er plötzlich wieder da. Wie aus dem Nichts ist er gekommen und in diesem Moment scheint er mich eingehend zu mustern.
Zuerst ist sein Blick abschätzend und kühl, doch dann huscht für den Bruchteil einiger Sekunden ein angedeutetes Lächeln über sein Gesicht. Und was für ein Gesicht der hat - soll ich Euch erzählen, wie er aussieht? Zwar ist er so schön, dass ich ihn kaum hinreichend werde beschreiben können, aber ich versuch es trotzdem.
Okay - also, er hat rotbraune Haare, die in leichten, schönen Wellen bis auf seine Schultern fallen. Paul hat mir erzählt, dass er solche Haare hatte. Überhaupt hat der Junge irgendwie Ähnlichkeit mit Paul, wie ich gerade feststellen muss.
Ich sehe ihn mir jetzt noch genauer an, denn ich will ihn Euch so gut wie möglich beschreiben.
Meine Güte, ist der hübsch - so ne klassische Schönheit und Look of the Year in einer Person, find ich.
Im Ernst, so würd ich auch gerne aussehen… Doch selbst wenn ich nicht krank wär, könnte ich da nicht mithalten… Aber wer kann das schon?
Paul vielleicht…
Na ja, ich werd Euch jetzt lieber weiter beschreiben, wie der Junge aussieht. Seine Augen sind so hellblau, wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag. Meine Güte, wie schöngeistig…
Aber irgendwie läuft es darauf hinaus. Ich hätte nun auch etwas weniger euphorisch babyblau sagen können, oder dass er so blaue Augen hat wie n Siamkater. Mir aber gefällt der Vergleich mit dem Himmel und wem das zu schwülstig ist, der kann ja vergissmeinnichtblau dazu sagen.
Wie dem auch sei - der Junge hat jedenfalls so hellblaue Augen wie Paul. Der hat die blausten Augen, die ich je gesehen hab.
Meine sind zwar auch blau, allerdings eher so graublau. Die Augen des Jungen aber wirken oft gletscherblau wie Eis; glasklar und kühl,
während Pauls Blick gar nicht kalt, sondern warm und strahlend ist.
Oder war. Im Moment ist er nämlich eher matt. Nahezu erloschen…
Also, ich bleibe nun lieber bei dem Jungen.
Ich möchte unbedingt erzählen, wie er aussieht und außerdem unterdrückt dies das seltsam leere, unangenehme Gefühl und die quälende Sorge um Paul.
Der Junge hat hübsch geformte, dunkle Augenbrauen und lange, dichte, fein geschwungene schwarze Wimpern, wie sie in irgendwelchen Werbespots für Mascara diese ganzen Mädchen immer haben.
So was wie Schminke hat er aber gar nicht notwendig.
Seine Gesichtszüge sind fein, der Teint ebenmäßig und rein - nicht so n Clerasiltestgelände wie ich eins hab.
Seine Nase ist klassisch geformt und seine Lippen sind…
Sinnlich und prall (oder so). O Mann, wie das klingt…
Na ja, aber seine Lippen zeigen nun mal eine unübersehbare Affinität zu roten, reifen Obst und genau das denkt auch das Mädchen, das gerade aus dem Pastorat herauskommt und nun an ihm vorbei geht.
Der Junge mit dem Kirschmund fläzt sich auf einer Sonnenliege im Garten vor der Kirche und bedenkt sie mit einem halbherzigen Blick.
Sie errötet daraufhin und geht hastig weiter.
Nach und nach kommen auch andere Jungen und Mädchen in den Garten hinaus, denn für heute ist der Konfirmandenunterricht vorbei.
Der Junge mit dem Kirschmund sieht an ihnen vorbei.
Er weiß, welche Blicke ihn jetzt streifen; er kennt das bereits.
Diese Blicke sind zu gleichen Teilen eifersüchtig, unwillig, respektvoll, bewundernd oder lüstern. Der Junge lächelt selbstverliebt. Er weiß, dass er gut aussieht, ist sich seiner Wirkung absolut bewusst und strotzt nur so vor Selbstvertrauen.
Aus dem Pastorat tritt nun ein Mann, der eine ausgebeulte, schlichte schwarze Hose und einen etwas unförmigen, dunklen Pullover trägt, heraus. Er sieht gutmütig und emphatisch aus, doch er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Jungen auf der Sonnenliege.
Trotzdem ist dies sein Vater und überdies der Gemeindepastor.
Der Kirschmund-Junge seufzt, als er ihn erblickt - er weiß nur zu gut,
was jetzt kommen wird.
Der Vater geht auf die Sonnenliege zu und als er sie erreicht hat, sieht er auf den Jungen, lächelt nachsichtig und fragt mild tadelnd:
“Tibor - kannst du nicht, wenn du schon während des Konfirmandenunterrichts mitten auf der Kirchwiese herumliegen und dich sonnen musst, wenigstens das T-Shirt dort sitzen lassen, wo es für gewöhnlich sitzt?“ Der Pastor mustert noch einmal seinen Sohn, der eine enge, schwarze Strechjeans trägt und das angesprochene, ohnehin knappe T-Shirt, über den Bauchnabel nach oben geschoben hat.
Tibor zuckt mit den Schultern.
“Um diese Tageszeit steht die Sonne hier nun mal am besten”, erklärt er.
“Und außerdem kann ich ja nichts dafür, wenn dieser Kindergarten jedes Mal ausflippt, nur weil draußen auf der Liege einer ist.“
Sein Vater schüttelt den Kopf. “Als ob du dir deiner Wirkung nicht bewusst wärst…”
Tibor sieht ihn gelangweilt an. “Ist ja schon gut“, erklärt er,
“künftig bin ich um diese Zeit im Proberaum! Ich will mir ja nicht nachsagen lassen, dass ich es darauf anlege, dass sich irgendwelche Kleinkinder an mir aufgeilen…“
Damit