Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742732620
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oder Erfahrenes nach und nach ins Gedächtnis zu rufen: Das Wasser aus der Dusche, unter der Carola steht, rauscht wie starker Regen. Die Fläche zwischen Parlament und Fischerbastei, über die mein Blick gleitet, verschwimmt mehr und mehr hinter den großen, dicht fallenden Tropfen, bis die Umrisse formlos werden wie an jenem Tag, als ich, nicht weit entfernt von Görlitz, mit Großmutter auf einem langgestreckten, vom Bauern mit zwei Knechten abgeernteten Feld im steinigen Boden zurückgebliebene Kartoffeln stoppelte. Während sie mit einer kurzstieligen, spitzen Hacke zwischen Leuten, die, ihre Köpfe tief gesenkt, verbissen vor, hinter und neben uns buddelten, emsig die festgetretene Erde lockerte, griff ich, sobald sich eine Knolle zeigte, blitzschnell nach ihr, ehe sie mir jemand, der gleichfalls auf einen Fund lauerte, wegschnappen konnte.

      Mit allen Sinnen bemüht, den kleinen Abschnitt, den wir, sobald der Bauer, seinen Wagen randvoll beladen, weggefahren war, zwischen den mehr als hundert drängelnden und schubsenden Menschen auf dem leicht welligen Acker erobert hatten, hartnäckig zu verteidigen und möglichst schnell meinen kleinen Rucksack aus derbem Tuch zu füllen, merkte ich lange nicht, dass es immer dämmriger wurde. Erst als sich Großmutter aufrichtete, ächzend ihren Rücken streckte, den Kopf weit nach hinten neigte und zum Himmel blickte, wo sich dunkelgraue Wolken wie große, schmutzige Segel blähten, wurde es mir bewusst.

      „Wir müssen weg“, sagte sie. „Gleich gibt’s ein Unwetter!“

      Ich schnürte rasch meinen Rucksack zu, hängte ihn um und folgte Großmutter, während sie sich eine Weile zwischen hastenden, ärmlich gekleideten Leuten bewegte, die einer mehrere hundert Meter entfernten Baumgruppe zustrebten, ehe sie plötzlich nach rechts auf einen Feldweg abbog. Ich begriff, dass sie zu der schmalen, zwei Tage vorher entdeckten, Brücke wollte, die sich über einen quirligen Bach spannte. Als wir sie im fahlen Zwielicht schon sehen konnten, zuckte der erste Blitz, und kaum hatten wir uns, das letzte Stück, so schnell wir konnten, über die begraste Böschung gelaufen, atemlos unter ihr neben einen runden, rissigen Holzpfeiler gesetzt, hörte ich, wie über uns der Regen auf die dicht aneinander gefügten Bohlen prasselte.

      Im vergangenen Sommer, fiel mir ein, wenige Tage, bevor der Gendarm zu uns gekommen ist, haben wir keinen Unterschlupf gefunden. Wir waren auf abgeschiedenen Wegen noch einmal zu viert in die nahe Kreisstadt Baja gefahren. Unsre Väter hatten Edit und mich auf den Querstangen ihrer Fahrräder mitgenommen. Manchmal mussten sie kräftig in die Pedale treten, um mit dem zusätzlichen Gewicht über besonders sandige Stellen zu gelangen. Wir badeten in der Sugovica, einem Donauarm, der langsam strömte und wie Quecksilber glitzerte. Nachher hockten wir uns auf die Uferböschung, die schilfgrün begrast war wie hier, ließen uns von der Sonne trocknen und blickten manchmal zum blassblauen Himmel, über den nur wenige weiße Wölkchen trieben, so dass ich hoffte, der Tag würde heiter bleiben. Aber schon zwei Stunden später trübte es sich plötzlich ein, und sobald auch noch heftiger Wind zu wehen begann, brachen wir überhastet auf.

      Wir hatten erst die halbe Strecke zurückgelegt, als es donnerte, und Blitze flackerten. Rasch verfinsterte sich der Himmel, und dann begann es zu regnen wie jetzt. Die großen, schweren Tropfen peitschten uns ins Gesicht, und ringsum gab es keine Behausung, die uns Schutz geboten hätte.

      Als wir von den Rädern stiegen, fielen Blitz und Donner fast zusammen. Schweflige Streifen rasten übers grauschwarze Firmament, zerrissen das Halbdunkel, tauchten die Landschaft für Sekunden in blendende Helle.

      „Hinlegen!“, rief mein Vater, ließ das Fahrrad fallen und warf sich ins Unkraut, das kniehoch wucherte.

      Ich zog Edit zu einer Mulde, wo wir zu Boden glitten und uns fest anschmiegten, was, wie ich heute weiß, nicht den besten Schutz bot. Obwohl ich meine Augen schloss, nahm ich jeden Lichtreflex wahr. Der Regen wurde stärker und stärker, durchnässte uns bis auf die Haut.

      Eine Weile lagen wir reglos. Dann rückten wir aufeinander zu, Stück um Stück, bis sich unsre Schultern berührten wie später, am letzten gemeinsamen Morgen, als wir, von einer noch matten Sonne gewärmt, vor unsrem lindgrünen Haus hockten, die Rücken an den höckerigen Sockel lehnten und sorglos das in der nahen Cukrászda gekaufte Eis aßen, bis wir bemerkten, wie straßenabwärts Gendarmen in die Häuser gingen.

      Während Großmutter ihren Arm um meine Schultern legte, als fürchtete sie, ich begänne zu frieren, begriff ich, dass nicht mehr Edit neben mir saß.

      „Bloß gut“, hörte ich sie sagen, „dass wir’s bis unter die Brücke geschafft haben.“ Ich spürte, wie sie beim nächsten Blitz erschrak und merklich aufatmete, als der Donner nicht gleich folgte. „Vor langer, langer Zeit“, fuhr sie leise fort, wie wenn sie nur mit sich spräche, „hatte ich ähnliches Glück. Es war, als ich Eva, mein Geschwisterkind“ – sie gebrauchte, ich erinnere mich genau, noch die alte Bezeichnung für Cousine - „in Budapest besuchte. Ich hab dir“, fragte sie, ein wenig lauter werdend, „doch davon erzählt?“

      „Hast du“, bestätigte ich und meinte, an jenem sonnigen Septembertag erstmals gemeinsam die Landeskrone erklettert, wieder mit ihr unweit des Aussichtsturms auf der versteckten Bank zu sitzen, von der wir die aus dunkelroten Klinkern errichtete Kirche, das Rathaus, den Bahnhof, wo wir mit unsren Bündeln aus dem Aufnahmelager angekommen waren, und die Waggonbaufabrik, in der Vater seit Wochen arbeitete, erkennen konnten.

      „Das Gewitter“, redete sie weiter, „überraschte uns, als wir zu Fuß von Pest nach Ofen wollten. Weil Eva sich auskannte, fanden wir ebenfalls, ohne nass zu werden, einen Unterschlupf. Er glich unsrem, war nur viel breiter und höher; denn wir standen inmitten einer Gruppe von Leuten unter der gewaltigen Kettenbrücke.“ Geschützt habe die allerdings nur vor dem heftigen Regen. Der Wind, fast ein Sturm, sei wütend über alles und jeden hinweggefegt, immer wieder durchzuckt von Blitzen, die, wie sie gemeint habe, im aufgewühlten, mit weißem Gischt überflockten, Strom verglüht seien.

      „Als es nur noch nieselte, flaute auch der Wind ab. Von der Brücke, die wir über eine steile Treppe erreichten, entdeckte ich einen so gewaltigen Regenbogen, wie ich ihn weder vorher noch nachher gesehen habe. Er streckte sich, so weit der Blick reichte, über die Stadt, schimmerte, schien mir, in zahllosen, aufs Feinste abgestuften, Farben, verbreitete ein unbeschreib­liches Licht und ließ die Gebäude, von denen sich der graue Dunst löste, märchenhaft leuchten.“ Besonders das Parlament mit seinen zahlreichen Bögen, Statuen und unterschiedlichen, weithin sichtbaren, Türmen habe sie dadurch noch viel schöner gedünkt, als es schon in Wirklichkeit sei.

      „So ist es mir bis heute im Gedächtnis geblieben“, sagte sie wesentlich später, als sie wahrscheinlich meinte, ich wäre alt genug, um ihre folgende Äußerung zu verstehen, „und ich glaubte lange“, fuhr sie fort, „dass in einem so wunderbaren Gebäude nur kluge, weitsichtige und gerechte Menschen tätig sein müssten, die das Beste für alle Bürger wollten. Doch seit wir, ohne schuldig zu sein, wie lästige Störenfriede mit ein paar armseligen Bündeln von Haus und Hof verjagt worden sind, weiß ich, dass ich einem törichten Irrtum erlegen bin, weil wohl keiner der Verantwortlichen bereit gewesen ist, sich einzugestehen, was unsre Vorfahren und wir mit Fleiß, Umsicht und Findigkeit für das Land geleistet haben.“

      Während Carola, das Badetuch um ihren noch nassen Körper geschlungen, hinter mich tritt, verflüchtigt sich alles, was ich zu sehen geglaubt habe, so rasch, wie es aufgetaucht ist. Nur das Parlament sowie die Fischerbastei, im prallen Sonnenlicht scharf umrissen, nehme ich wahr, und dazwischen die Kettenbrücke, über die wir ganz sicher mal gehen werden, obwohl es, da im Krieg alle Übergänge zerstört wurden, nicht mehr dieselbe ist, von der Großmutter den riesigen Regenbogen erblickt hat. Der war mir, als sie ihn während des Gewitters, neben dem rissigen Brückenpfeiler nahe an mich gerückt, eindrucksvoll schilderte, so wundersam erschienen wie manche Geschichten, die sie mir einst in Vaskút erzählt hatte.

      Als wir nach dem Frühstück, das wie vor einem Jahr reichlich, aber immer noch einfallslos ist, durch den nahen Park in Richtung Moszkva tér schlendern, tröpfelt erneut Nässe aus den Baumkronen, und von den Zweigen, die im leichten Wind zittern, trudeln welke, vergilbte Blätter herab. Aber sobald wir den großen, runden Platz erreichen, sehen wir, dass die Bänke, auf denen, mit Folie oder Zeitungen zugedeckt, Stadtstreicher gelegen hatten, leer sind, und wir werden auch in den nächsten