Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742732620
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      Rainer Schulz

      Unterwegs zu Sándor

      Erzählungen

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       HERBST IN BUDAPEST

       DER REGENBOGEN

       DIE PLATANE

       DAS ALTE GRABMAL

       MÄNNERTOD

       DER KÖNIG VON MARIENBAD

       DER REBELL

       WIEDERSEHEN IN HAIFA

       GLOSSAR

       Impressum neobooks

      HERBST IN BUDAPEST

      An diesem frühen Oktoberabend wird mir erneut bewusst: Ich bin nie bloß dort, wo ich mich aufhalte. Ausgelöst durch einen unverhofften Reiz, eine jähe Erinnerung, ein Bild, ein Foto, einen Geruch oder einst gehörte Worte, entführen mich meine Gedanken in andre Gegenden, Zeiten und Verhältnisse.

      Während der Zug, nur noch ein Stück vom Keleti-Bahnhof entfernt, aus unersichtlichen Gründen hält, verspüre ich Durst wie Carola. Doch wir haben schon lange alles ausgetrunken. Auch an jenem fernen Tag, als der Güterwaggon, in dem ich zwischen Großmutter und meinen Eltern auf unsren Bündeln hockte, mit den übrigen Wagen unweit auf ein Abstellgleis geschoben wurde, waren sämtliche Flaschen, in die Mutter Wasser oder Tee gefüllt hatte, bereits geleert.

      Mir ist, als sei es gestern geschehen: Morgens hatte ich mit Edit vor unsrem Haus gehockt und aus der nahen Cukrászda geholtes Eis gegessen. Die Gendarmen, die straßenabwärts in Häuser gingen, bemerkten wir erst, als die vordersten keinen Steinwurf mehr von uns entfernt waren. Was folgte, gerinnt zu Bildern, die rasch wechseln, als würden sie von fahrigen Fingern bewegt: der ungarische Gendarm, der uns zum Packen zwang, Mutters Ohrringe einsteckte und meine neue Schultasche nahm, die große Wassermelone, die, von mir zum Kühlen hinabgelassen, im Ziehbrunnen zurückblieb, der Lastwagen, auf den wir unsre Bündel hoben, Edits verstörtes Gesicht hinter der Gardine, das im Staub, der beim Anfahren emporstob, versank wie alles ringsum.

      Als ich merke, wie der Zug langsam anrollt, erscheint mir meine Kehle trocken wie im stickigen Waggon auf dem Abstellgleis. Ich hatte damals versucht, mich abzulenken, indem ich die Lichter, die zwischen den ein Stück geöffneten Schiebetüren auf dem Bahngelände flimmerten, zu zählen begann. Aber es half nichts, mein Durst verschlimmerte sich und narrte meine Sinne. Während meine pelzige Zunge über die spröden Lippen leckte, glaubte ich, die Melone aus dem Ziehbrunnen aufgeschnitten vor mir zu sehen, und ich malte mir aus, wie erlösend es wäre, in ihr saftiges Fruchtfleisch beißen und die rote Flüssigkeit, die sich in der hohlen Schale sammelte, trinken zu können.

      Wenngleich ich nur teilweise aufnahm, worüber sich die zwei Dutzend Leute, die mit im Waggon waren und wie wir auf Bündeln lagerten, gedämpft unterhielten, spürte ich ihre Unruhe. Alle beschäftigte, wohin man uns bringen würde. Nach Bayern, wie den ersten Transport aus unsrem Dorf? Nach Sachsen, weil die Amerikaner, wie gemunkelt wurde, niemand mehr aufnehmen wollten? Oder vielleicht sogar nach Russland? Brauchte man uns dort für „malenkij robot“ wie die Männer und Frauen, die vor mehr als zwei Jahren ins Ungewisse verschleppt worden waren?

      Während Carola mich an der Schulter berührt, bin ich rasch wieder in der Gegenwart. Ich helfe ihr in den Mantel und hebe unser Gepäck aus der Ablage. Unterwegs zur Tür empfinde ich meinen Durst schwächer. Ist es, weil ich damit rechne, bald etwas zu trinken?

      Kaum sind wir ausgestiegen, erfasse ich, dass es auf dem Bahnsteig anders ist als sonst. Ich sehe weder Frauen, die auf Schildern, die sie beflissen so hoch wie möglich aus der Menge halten, preiswerte Unterkünfte feilbieten, noch werden wir von Taxifahrern bedrängt, die marktschreierisch ihre Dienste antragen wie einst Scherenschleifer, Lumpensammler, Kesselflicker und Besenbinder in unsrem Dorf.

      Die Leute, zwischen denen wir den Bahnhof verlassen, reden kaum miteinander. Manche wirken regelrecht bedrückt, und einige verharren auf der Außentreppe, als seien sie sich nicht schlüssig, wohin sie sich wenden sollen. Auch der ältere schmächtige Mann, der neben seinem Taxi steht, kommt mir verunsichert vor. Nachdem ich ihm unser Ziel genannt habe, erwidert er, dass es Probleme gebe. Vielleicht sei ein junger Kollege bereit, uns zu fahren. Der löst sich, sobald er uns bemerkt, aus der Gruppe, wo einer den Übrigen, unterstützt durch häufige Gesten, etwas erzählt, das sie, wie es scheint, noch erregter werden lässt.

      Es seien große Umwege notwendig, sagt der Mann, der eine abgeschabte braune Lederjacke trägt. Deshalb koste es fünfunddreißig Euro. Als er merkt, dass es uns zu viel ist, zuckt er mit den Schultern und will sich wieder zur Gruppe begeben. Doch dann dreht er sich um, kommt einen Schritt zurück und rät uns, die Metro zu benutzen. Mit ihr kämen wir am sichersten auf die andre Seite.

      Wir können sofort an den Fahrkartenschalter, und auf dem Bahnsteig warten nur wenige Menschen, von denen vier mit uns in einen Wagen steigen. Obwohl sämtliche Sitzplätze frei sind, bleiben die andern stehen, halten sich an den Obergriffen fest, ziehen ihre Köpfe zwischen die Schultern und blicken unstet, als seien sie sich einer Gefahr bewusst, die wir noch nicht kennen. Doch bald befällt auch uns Sorge, weil wir zu ahnen beginnen, dass alles, was uns seit der Ankunft verwundert oder befremdet hat, miteinander zusammenhängt. Vor den Stationen, die folgen, verringert der Zug seine Geschwindigkeit, hält aber nicht, sondern rollt langsam an den gespenstisch leeren Bahnsteigen vorbei, dass sich mühelos die Namen auf den Tafeln lesen lassen: Blaha Lujza tér, Astoria, Deák Ferenc tér, Kossuth Lajos tér.

      Ich merke, dass Carola näher an mich heranrückt. Es ist, denke ich, ähnlich wie in jener Augustnacht. Damals saß dicht neben mir Anke, und die S-Bahn fuhr vom Bahnhof Zoo nach Osten. Wir waren, vom Zelten an einem mecklenburgischen See heimwärts unterwegs, für ein paar Stunden in der geteilten Stadt geblieben, hatten den demokratischen Sektor verlassen und in einem Kino am Kudamm für das eins zu fünf getauschte Geld den Film gesehen, in dem amerikanische Jugendliche, von ihren Eltern unverstanden, nicht so recht wissen, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollen. Ihre innere Leere weckt Sehnsüchte, die sich nicht erfüllen. Die Unzufriedenheit, die daraus erwächst, löst Gedanken aus, die zu gefährlichen Handlungen werden: In einer Szene rollten zwei von ihnen ganz, ganz langsam, damit sich der Nervenkitzel bis zum Äußersten steigerte, in gestohlenen Autos an einen Abgrund heran, um Mann gegen Mann den als Sieger zu ermitteln, der, ehe die Fahrzeuge unrettbar in eine Schlucht sausten, als Letzter heraussprang.

      Obwohl die Spätvorstellung bis ein Uhr gedauert hatte, waren wir, durch den Film aufgewühlt, noch hellwach. Deshalb spürten wir rasch, dass fast alle, die im Wagen saßen, angespannt wirkten. Sahen sie etwas durchs Fenster, das sie verstörte? Als auch ich mein Gesicht an die Scheibe presste, meinte ich, im ungewissen Licht, das da und dort aus matten Lampen sickerte, verschwommene Gestalten zu erkennen, die sich geschäftig bewegten.

      Morgens in Görlitz angekommen, erfuhr ich aus dem Radio, dass meine Sinne mich nicht getäuscht hatten. Es