Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742732620
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anders war, wir eine Gelegenheit verpasst hatten, die vielleicht lange nicht wiederkehrte.

       Als die Bahn zum ersten Mal hält, schrecke ich auf. Wir sind, erfasse ich, unter der Donau hindurch, wie vom Taxifahrer vorausgesagt, ungehindert bis Buda gelangt. Wenig später steigen wir am Moskva tér in eine Straßenbahn um und erreichen nach zwei Haltestellen unser Hotel. An der Rezeption dauert es nicht lange, der Lift bringt uns schnell nach oben, und im Zimmer erfahren wir aus dem Fernseher, weshalb von der Polizei so viele U-Bahn-Stationen gesperrt worden sind. Durch wiederholte Vorkommnisse in den letzten Wochen erschreckt, hat man befürchtet, es könne auch während der Veranstaltung, in der an den Beginn des Volksaufstands vor fünfzig Jahren erinnert werden soll, zu Ausschreitungen kommen. Doch keiner hat wohl geahnt, dass sie so rüde sein würden, wie es die ausgestrahlten Bilder zeigen. Ich bin froh, dass wir nicht in der aufgebrachten Menge sind. An dem Junitag jedoch, als wir den sechsten Sommer in Görlitz erlebten, war ich mitten hineingeraten. Schon im Klassenzimmer, wo wir an einem Aufsatz schrieben, hörte ich den Rumor, der von irgendwo draußen zu uns drang. Als wir später, neugierig darauf, was sich ereignete, aus der Schule eilten, flutete eine Unzahl erregter Menschen durch die Straßen. In ihren Strom geraten, und mit Tom von den andren getrennt, wurden wir gestoßen und gerempelt, schnappten Satzfetzen auf: „Fast alle streiken.“ – „Das kann nicht gut gehen.“ – „In der Kreisleitung hat man sich verschanzt.“ – „Nun wird abgerechnet!“

      Als wir einen Durchgang passierten, bemerkte ich, wie drei Männer einen Polizisten in eine Wandnische drückten. Sie rissen ihm die Schulterstücke ab, drehten seine Arme auf den Rücken, zerrten ihm die Mütze übers Gesicht und schlugen darauf.

      Geschlagen, gestoßen, getreten wird auch auf dem Bildschirm. Carola beobachtet es, scheint mir, befremdet wie ich. In den Gesichtern, die im Schwenk der Kamera auftauchen, meine ich, flüchtig zu erkennen, was die empfinden, die Gewalt ausüben, und jene, die sich wehren, sich und andre zu schützen versuchen. Fünfzig Jahre vorher wurde an gleicher Stelle geschossen, rollten russische Panzer durch die Straßen, erstickten sämtliche Freiheitsrufe, brachen jeglichen Widerstand. Es gab auf beiden Seiten zahlreiche Opfer. Insgesamt über fünftausend. Und vierzig Mal so viel verließen über Österreich oder Jugoslawien das Land, in dem sie nicht bleiben wollten. Von denen, die ich im Dorf gekannt hatte, gehörten Ildikó und Sebastian dazu. Sie flüchtete zu Sándor nach Haifa, er noch weiter bis zu den Blauen Bergen.

      Schon im Bett, umgeben von Stille und Dunkelheit, denke ich: Warum es seinerzeit – hier wie in Görlitz – zum Aufruhr kam, ist leicht nachzuvollziehen. Weshalb man eine Gedenkveranstaltung, die dazu dienen sollte, frühe Vorkämpfer für inzwischen Erreichtes zu ehren, entweiht und missbraucht hat, ist schwer zu verstehen. Was sind das für Leute, die begonnen haben zu schlagen, zu treten, zu stoßen? Sind sie von welchen, die selbst nach Macht streben, verhetzt und aufgewiegelt worden, um sie für die eigenen Ziele auszunutzen? Oder ergeht es ihnen wie den amerikanischen Jugendlichen aus dem Film? Vermögen sie nichts Sinnvolles mit ihrem Leben anzufangen, weil sie die Chancen, die sich ihnen bieten, nicht wahrnehmen wollen? Suchen sie die Schuld für ihre innere Leere, aus der früher oder später Unzufriedenheit erwächst, die oft zu unüberlegtem Verhalten führt, ausschließlich bei andern?

      Ehe ich eine Antwort finde, überwältigt mich, erschöpft durch die vielen Eindrücke, der Schlaf.

      Am Morgen erwache ich erst, als Carola schon im Bad ist. Ich stehe auf, schiebe die Übergardine beiseite und öffne das Fenster. Die Sonne scheint von einem hellblauen, fast wolkenlosen Himmel, der auch an den folgenden Tagen so bleiben wird.

      Was in mein Gesichtsfeld rückt, erinnert mich an Haifa. Hier erheben sich unweit die Ofner Berge, dort sah ich vom 14. Geschoss unsres Hotels, das im Stadtteil Hadar Hacarmel steht und mich an einen aztekischen Teocalli erinnerte, die mit Pinien bewachsenen Hänge des Karmel. Weit oben, nur wenige Steinwürfe von der Universität entfernt, an der Sándor gelehrt hat, fanden wir das Haus, in dem er mit Ildikó wohnt. Wir hatten weder ihn noch sonst etwas zielgerichtet gesucht, sondern waren, abseits von den Stellen, wohin Fremde gewöhnlich geführt werden, unsren Eingebungen gefolgt, mal meinen, mal denen, die Ines hatte, weil wir glaubten, auf diese Weise am ehesten unverfälschte Einsichten zu gewinnen.

      So wollen wir es auch jetzt halten. Carola denkt wie ich, dass sich, was andre im Gefolge bezahlter Begleiter auf überfüllten Plätzen suchen, zu zweit in abgelegenen Straßen eher finden lässt.

      Nach dem Frühstück, das reichlich, aber einfallslos ist, verlassen wir das Hotel. Wir schlendern durch einen nahen Park in Richtung Moskva tér. Aus den Baumkronen tröpfelt Nässe, von Zweigen, die im leichten Wind zittern, lösen sich welke, vergilbte Blätter und trudeln lautlos herab. Als wir einen großen runden Platz überqueren, sehen wir auf mehreren Bänken Stadtstreicher liegen. Mit Folie oder Zeitungen zugedeckt, scheinen die meisten noch zu schlafen. Nur nahe der Stelle, wo unser Weg weiterführt, hat sich einer aufgesetzt. Ohne uns zu beachten, zieht er eine kleine, flache Flasche aus seinem arg verschlissenen Jackett, öffnet ihren Verschluss, trinkt genussvoll zwei Schlucke und wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen, ehe er in die nahe an seinen Körper gerückte Plastiktüte blickt. Während er nach etwas kramt, beginnt er, erregt zu brabbeln. Es klingt, als schimpfe er auf Gott und die Welt.

      Mit seinem wirren Haar und dem dichten, struppigen Bart ähnelt er dem Obdachlosen, der in Jena öfter durch unser Wohngebiet stromert und die Deckel der Mülltonnen hebt. Niemand kümmert sich um ihn. Jeder ist bestrebt, an dem zerlumpten Mann, der gewöhnlich, als schäme er sich, seinen Blick abwendet, so schnell wie möglich vorbeizukommen. Es scheint fast, als fürchte man, sein Elend könne anstecken. „Oder will man“, hat Carola mal gefragt, „nur nicht sehen, was in großen Städten traurige Wirklichkeit ist?“

      Auch jetzt fühlen wir uns besser, als der brabbelnde Mensch, der sich schon morgens mit Palinka tröstet, auf seiner Bank zurückbleibt. Ohne uns abzusprechen, wenden wir uns, sobald der Park endet, nach rechts, gehen unterhalb der Burg durch Straßen und Gassen, gelangen neben dem Donauufer, ohne es zu beabsichtigen, an den Fuß des Gellért-Bergs und stehen unver­mittelt vor der Felsenkapelle, die zum nahe gelegenen Kloster der Pauliner gehört. Die Stille darin ist angenehm. Während wir es empfinden, kommt mir in den Sinn, dass wir vielleicht auf der Budaer Seite geblieben sind, um nicht in die Nähe des Parlaments zu gelangen, wo man sich gestern Abend so erbittert geschlagen hat.

      Wieder im Freien, schauen wir eine Weile zu dem im Jugendstil errichteten Gebäude des Gellért-Bads, in das wir an einem der nächsten Tage, wie von Ines empfohlen, gehen wollen. Dann wenden wir uns nach rechts und laufen über gepflegte Wege und steile Treppen aufwärts. Es ist, denke ich, ein bisschen wie in Görlitz, als Großmutter Gertrud mit mir vor langer Zeit zum ersten Mal die Landeskrone bestieg. Dort bewegten wir uns unter alten Buchen, deren dichte Kronen sich wie Schirme über uns breiteten und nur selten eine Lücke ließen, durch die wir ins Tal sehen konnten. Hier wird unsre Sicht lediglich von einzelnen Bäumen und Ziersträuchern, die auf den steinigen Hängen wachsen, für kurze Zeit beeinträchtigt. Wenn der Weg nahe zur schroffen Felswand führt, die an manchen Stellen fast senkrecht abfällt, können wir ungehindert die tief unter uns liegende großflächige, vielgestaltige Stadt betrachten, und Carola bemüht sich, Örtlichkeiten zu erkennen, die wir bei früheren Aufenthalten besucht haben. Mein Blick, wird mir bewusst, reicht weiter als in Haifa, wo sich Tag für Tag eine bläuliche, aus Auspuffgasen gewobene Dunstglocke über Straßen, Plätze, Parkanlagen und den Hafen legte.

      Auch von der Landeskrone, denke ich, hatten wir eine gute Aussicht. Ich stand neben Großmutter und stützte mich auf die brusthohe, vielfach von schmalen Schießscharten unterbrochene Umfassung des einstigen Wachtturms. Wir versuchten zu bestimmen, wo wir wohnten, ohne dass es uns sicher gelang. Nur die Kirche, in der wir vormittags gewesen waren, entdeckten wir mühelos, ebenso das Rathaus, den Bahnhof und die Waggonbaufabrik, wo Vater arbeitete.

      Als mehrere Leute hochkamen und sich neben uns drängten, stiegen wir hinab und setzten uns auf eine versteckte Bank, die ich von oben erspäht hatte. Vor und neben ihr wucherte dorniges Gestrüpp. Aber wenn wir die Köpfe reckten, sahen wir fast so viel wie vom Turm.

      Vor langer Zeit, sagte Großmutter nach einer Weile, habe sie, fern von hier, auf einem ähnlichen Felsen gesessen. Die Stadt