Unterwegs zu Sándor. Rainer Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742732620
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war und sich bis Haifa durchgeschlagen hatte, trennten sie nicht nur Tausende von Kilometern, sondern auch zweierlei Ordnungen. Als der Aufstand begonnen habe, erzählte er mir auf ihrer Terrasse, sei er voll fiebriger Erwartung gewesen. Abend für Abend habe er am Radio gesessen, um zu erfahren, was sich in Budapest abspiele. Als die Niederlage absehbar geworden sei, habe er sich gewünscht, dass Ildikó die plötzliche Gelegenheit, das Land zu verlassen, nutzen möge, sei andrerseits aber voller Sorge gewesen, dass sie sich einer zu großen Gefahr aussetzen könne. Später, als er erfahren habe, unter welchen Schwierigkeiten sie zu ihm gelangt sei, habe er in Gedanken nahe der Grenze neben ihr unterm dornigen Gestrüpp gelegen, in die Dunkelheit gespäht, die Schritte der Posten gehört und gefürchtet, es würden Schüsse fallen wie an jenem späten Nachmittag, als er aus der Reihe gesprungen und mit jagendem Puls zum Moor gehetzt sei.

      Wie es Sebastian bis zu den Blauen Bergen verschlug, ist mir nicht genau bekannt, begreife ich, als wir schon in Richtung Heldenplatz weitergehen. Aber er kommt mir oft in den Sinn, seit ich in Vaskút von seiner Mutter erfahren habe, wo er lebt. Vielleicht, denke ich, wäre ich in seine Nähe gelangt, wenn uns die Verhältnisse wie ihn zu einer raschen Entscheidung gezwungen hätten. Aber so fehlte uns wohl der letzte Schneid, zu viert auszuwandern, wie Wolf, Manfred, Norbert und ich es in den Sommerferien nach der achten Klasse abgesprochen hatten. Außerdem waren unsre Vorstellungen, von heute aus betrachtet, ziemlich versponnen: Unter hohen, alten Eukalyptus­bäumen ein Blockhaus, fest gezimmert, nicht weit davon ein See, am Steg ein Kanu... Trotzdem versuchten wir, uns zielstrebig auf das geplante Unternehmen vorzubereiten. Zwei-, dreimal in der Woche liefen wir auf dem Rundkurs am Stadtrand, führten penibel Buch über Zeiten und Platzierungen, freuten uns über jeden Fortschritt. Doch später weckten die unterschiedlichen Berufe, die wir erlernten, bei jedem neue Ziele. Das Bestreben, sie zu erreichen, zwang uns, in andre Orte zu gehen. Bis zu den Blauen Bergen kam niemand. Aber Wolf und Manfred wechselten vor jener Nacht, in der ich mit Anke vom Bahnhof Zoo nach Osten fuhr, über die innerdeutsche Grenze.

      Vom Heldenplatz, wo Carola länger als ich das Millenniumsdenkmal betrachtet, biegen wir in eine schmale Straße ein. An der übernächsten Kreuzung finden wir ein kleines, verstecktes Restaurant und setzen uns auf die von Bäumen beschattete Terrasse. In den folgenden Tagen werden wir noch zweimal hier einkehren, weil das Essen gut ist, die Kellner flink bedienen und nicht versuchen, gleich ein Trinkgeld von fünfzehn Prozent oder mehr auf die Rechnung zu schreiben, wie es in andren Lokalen öfter bei unbedarften Ausländern geschieht. Am meisten jedoch zieht uns, glaube ich, ein graugetigerter Kater an, der immer lautlos von irgendwo auftaucht und uns um die Beine schmeichelt. Wenn Carola ihn füttert, erinnere ich mich an seinen fuchsroten Artgenossen, der in Haifa, als wir im weit oben gelegenen Stadtteil Central Carmel Abendbrot aßen, an unsren Tisch kam, sich ein Stück entfernt hinsetzte und mit den Augen bettelte, bis er von Ines die erwarteten Häppchen erhielt. Auch an die schwarz-weiße Katze mit dem glanzlosen Fell denke ich, die in Jena durch unsre Siedlung streunt und oft hungrig an unsrem Sitzplatz erscheint, weil ihre arbeitslosen Besitzer sie anscheinend nicht mehr ausreichend versorgen. Und einmal meine ich, unsre Macska Schneewittchen zu sehen, die wir an dem Tag, als der Gendarm gekommen war, wie die Kuh Rosi, die zwei Schweine, das Geflügel und Betyár, unsren Hund, zurücklassen mussten.

      Schon auf der Güterzugfahrt, die uns nach drei Tagen und vier Nächten in die sächsische Stadt Pirna brachte, versuchte ich, mir vorzustellen, wie es der Katze, die unsre Anwesenheit gewöhnt war, allein ergehen mochte. Meine Sorge hielt auch im Lager an und verlor sich erst in Görlitz, als ich von Edit den ersten Brief erhielt. Sie hatte ihm ein Foto beigelegt, das zeigte, wie sich Schneewittchen auf ihrem Schoß rekelte. Ihre Eltern, schrieb sie, seien sofort einverstanden gewesen, als sie darum gebeten habe, die ihr vertraute Katze aufnehmen zu dürfen.

      Die Sonne scheint warm wie an den übrigen Tagen, während wir auf dem Schiffsdeck sitzen, nordwärts fahren und aus den Kopfhörern deutsche Erklärungen zu Brücken, Gebäuden und wichtigen Ereignissen vernehmen. Ich lausche nur mit halbem Ohr, schließe die Augen, halte mein Gesicht wie Carola ein wenig schräg nach oben, damit die Sonnenstrahlen es berühren, und genieße das Lüftchen, das meine Haut streichelt. Wir fahren auch mit, weil das Schiff an der Margitsziget anlegt, und uns Zeit für einen größeren Rundgang bleibt.

      Während wir über die sauber geharkten Wege laufen, erinnere ich mich an das, was ich während der Bahnfahrt gelesen habe: Die Insel bestand einst aus drei selbstständigen Teilen, die erst im 19. Jahrhundert miteinander verbunden und zu einem öffentlichen Park erklärt wurden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mussten Besucher Eintrittsgeld zahlen. Seitdem darf das weitläufige Gelände kostenlos betreten werden. Großmutter konnte sich also wahrscheinlich schon überall ungehindert bewegen. Sie wird, denke ich, öfter stehen geblieben sein und die Bäume betrachtet haben, die wohl damals bereits eine beachtliche Höhe aufwiesen. Ich bin fast sicher, dass sie nicht weit von der Bank, auf die wir uns gesetzt haben, gewesen ist, um die Platane mit der gewaltigen Krone zu betrachten, weil sie der ähnelt, die unweit von Vaskút einzeln auf einer Brache steht. Wenn Großmutter mich zu unsrem Krautacker mitnahm, kamen wir auf einem sandigen, keinen Steinwurf entfernten, Weg an dem Baum vorbei. Fast immer verharrte sie eine Weile und blickte in die dicht belaubte Krone, wo meist Vögel von Zweig zu Zweig hüpften und lauthals zwitscherten. Manchmal liefen wir durch das hohe, verfilzte Gras, und ich durfte von einem weit ausladenden Ast, den Großmutter herunterzog, einige der runden, stachligen Früchte abzupfen, die ich in meine Hosentasche steckte.

      Den Baum, weiß ich, seit wir in Haifa gewesen sind, kannten auch Ildikó und Sándor. Sie hockten dort, durch einige dornige Büsche vor unerwünschter Sicht geschützt, nahe nebeneinander, lehnten ihre Rücken gegen den schrundigen Stamm und träumten sich fort in ein andres Land, wo Sándor keinen Davidstern mehr tragen müsste und nicht täglich von Mitschülern angefeindet würde.

      Erst am letzten Nachmittag schaffen wir es, in die St.-Stephan-Basilika zu gehen. Ihr Bau hat über ein halbes Jahrhundert gedauert und wurde 1905 vollendet. Die Kuppel ragt 96 Meter in den türkisfarbenen Himmel, an dem sich ein paar weißgraue Wolken plustern.

      Innen empfängt uns wie in der Felsenkapelle am Gellért-Berg die Gotteshäusern eigene Stille. Ich spüre, dass Carola beeindruckt ist wie ich. Obwohl Großmutter es nicht erwähnt hat, nehme ich an, dass auch sie in der Kirche gewesen ist. Sie wird, denke ich, in einer Bankreihe niedergekniet sein, um mit gesenktem Kopf, geschlossenen Augen und gefalteten Händen zu beten, wie sie es später, in Görlitz, Tag für Tag in ihrem schmalen, lichtarmen Zimmer getan hat. Der Raum, in dem sie ihr entschwindendes Leben verdämmerte, bot nichts mehr, was sie noch zum Hinschauen gereizt hätte, und auch ein Blick durchs Fenster auf den Hinterhof wäre kaum tröstlicher gewesen. Von den grauen Wänden bröckelte der Putz, die Linde, deren Grün Großmutter früher erfreut hatte, schien zu verdorren, und ihre Sehnsucht, anfangs von den Federwölkchen, die südwärts segelten, immer aufs Neue entfacht, glomm kaum noch.

      Während ich neben Carola niederknie und meinen Blick nach unten richte, fühle ich mich ganz in meine Erinnerung entrückt. Die gedämpften Schrittgeräusche der andren Besucher verstummen, und mir ist, als höre ich von fern Gesang. Er scheint sich zu nähern, und ich meine, dort zu sein, wo ich nie wirklich gewesen bin. Aber das, was ich aus Großmutters Erzählungen, aus dem Buch, das Sándor seinem Freund Joschi einst mit ungewöhnlicher Absicht gab, und aus Titeln, die ich später ganz gezielt las, erfahren habe, ist so tief in mich gedrungen, dass ich manchmal glaube, ich selbst wäre José gewesen, der in meinem Roman als Ich-Erzähler mit Hernán Cortés ins Reich der Mexica einfiel und auf dem großen Teocalli von Tenochtitlán jene denkwürdige Messe erlebte.

      Ich habe die Stelle mehrmals umgearbeitet, so dass sie mir Wort für Wort im Gedächtnis geblieben ist: Nachdem Montezuma unsren Wunsch mit seinen Priestern beraten hatte, erfuhren wir, dass eingetreten war, was wohl selbst Cortés ein wenig verblüffte: Die Azteken überließen uns tatsächlich einen Turm für unsre Gottesdienste.

      Um die erhaltene Erlaubnis so schnell wie möglich nutzen zu können, säuberten wir den Raum, schmückten die Wände mit frischen Blumengewinden und errichteten einen Altar, über dem ein Kruzifix und das Bildnis der Heiligen Jungfrau angebracht wurden.

      Die erste, von allen mit Spannung erwartete Messe werde ich, da sie unter recht merkwürdigen Umständen stattfand,