Barfuß ins Verderben. Bernharda May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernharda May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750276383
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gebärt nur einen Schatten, der verschwindet, sobald die Sonne untergeht. Und was die dritte zur Welt bringt, weiß ich nicht mehr.«

      »Klingt wie ein Märchen«, meinte Carmen.

      »Als solches war es auch konzipiert«, sagte Max. »Aber Oles Timing war denkbar schlecht. Er veröffentlichte das Epos während der Hochphase der Frauenbewegung, und eine Menge Feministinnen sahen darin Diffamierung, antiquierte Rollenbilder und allerhand mehr. Ihre Vorwürfe brachten Ole Klävers zwar als Dichter in die Schlagzeilen, sein Werk wurde aber eher geschmäht als gelesen.«

      »Traurig für ihn«, gab Carmen zu. »Aber umso berechtigter ist ja dann meine Frage, wovon der Mann eigentlich lebt?«

      Wieder kicherte Max. Statt zu antworten, begann er leise ein Lied zu singen:

      »Hallo, Frau Routine,

      jetzt ziehst du bei uns ein.

      Jetzt kommt die gleiche Schiene,

      tagein, tagaus, tagein.«

      Carmen war ganz Ohr.

      »Das kenne ich! Wie geht es gleich weiter?«

      Sie sann kurz nach und sang dann:

      »Hallo, Frau Routine,

      du schaust bei uns vorbei.

      Kochst mir und meiner Freundin

      den täglich Einheitsbrei.«

      Den letzten Vers hatten Max und Carmen gemeinsam gesungen und nun lachten sie. Beinahe fielen ihnen die Zigaretten aus den Händen.

      »Das ist von Klävers?«, fragte Carmen ungläubig. »Ein alter, alberner Schlager?«

      »Jedenfalls der Text ist von ihm«, antwortete Max. »Und egal, wie albern das Lied ist, es war damals ein großer Hit. Die Tantiemen sind’s, die Ole sein unabhängiges Leben ermöglichen.«

      Vom Gelächter angelockt, gesellten sich Herr von Voss und Immanuel Stuber zu den beiden auf die Terrasse.

      »Oh, es gibt Cappuccino?«, rief Carmen auf, als sie Herrn von Voss vorsichtig eine volle Tasse vor sich hertragen sah. »Wissen Sie, ob es auch Latte Macchiato gibt?«

      »Ja, den gibt es«, sagte Herr von Voss und setzte sich sachte auf einen Gartenstuhl, damit nichts verschütt ging. »Auch Espresso und normalen Kaffee und Trinkschokolade.«

      »Seit wann gibt sich Sandrine solche Mühe mit den Heißgetränken?«, wunderte sich Max.

      »Oh, das ist nicht von der Köchin«, erklärte Herr von Voss. »Das ist aus dem Kaffeeautomaten in der Diele.«

      Immanuel Stuber fiel ihm ins Wort.

      »So ein Umweltsündergerät, wofür ein Haufen Plastikmüll produziert werden muss«, schimpfte er. »Aluminiumkapseln, Plastiktüten – und wo kommt das am Ende alles hin? Ins Meer, wo es von unschuldigen Tieren gefressen wird, die daran verenden.«

      »Sie sind Umweltaktivist?«, erkundigte sich Carmen und ein Hauch Verachtung lag in ihrem Ton.

      »Ja«, bekannte Immanuel stolz, »und leider der einzige Mensch weit und breit, der den langfristigen Schaden erkennt, der von Kaffeeautomaten und dergleichen verursacht wird.«

      Carmen blies den Qualm durch die Nase.

      »Ich denke eher, dass die Medien stark übertreiben, wenn sie uns solche Horrorszenarien präsentieren«, meinte sie lapidar.

      Immanuel würdigte sie keines Blickes. Er starrte in den Garten und schüttelte unbewusst den Kopf.

      »Ich kann deine Bedenken teilen«, mischte sich Max ein und fand nichts dabei, seinen Altersgenossen ungefragt zu duzen. »Es kommt ja noch hinzu, dass der Automat hier im Wattenstieg verhindert, dass die Pensionsgäste in eines der gemütlichen Frankenhorner Cafés gehen. Neben dem Umweltschaden ist also zusätzlich der wirtschaftliche Faktor zu berücksichtigen.«

      »Oh, gleich zwei Umweltaktivisten«, rief Carmen aus. »Dann schweige ich lieber und verrate nichts über meine Haarspraydose, die ich immer mit mir führe.«

      Die Männer schauten sie irritiert an. Sie wussten nicht, ob Carmens Aussage als Scherz gemeint war.

      »Wie soll man denn sonst die Frisur instand halten bei diesem Seewind?«, fügte sie hinzu und schenkte der Runde ein weiteres, strahlendes Lächeln.

      Immanuel ignorierte ihre Frage und wendete sich Max zu.

      »Wenn du auch nicht mit dem Automaten einverstanden bist, könntest du ja die Wattenelfriede fragen, ob sie ihn wieder abschafft«, schlug er vor. »Auf dich hört sie, weil sie deine Tante ist.«

      »Großtante«, korrigierte Max und dachte nach. »Mal sehen, was ich tun kann. Jetzt muss ich sowieso zu ihr, bestimmt dreht sie nochmal eine Runde auf dem Watt.«

      Er drückte den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher aus und erhob sich.

      »Oh, ein Abendspaziergang am Meer«, schwärmte Carmen. »Wenn Gustav und ich nicht schon etwas vorhätten, würde ich zu gern mitkommen. Aber morgen um die Zeit darf ich Sie beide sicherlich begleiten?«

      Wie kann eine Frau so töricht sein, fragte sich Max im Stillen. Laut erklärte er der Dame, dass ein Spaziergang auf dem Watt nicht jeden Tag zur gleichen Stunde stattfinden könne.

      »Man muss sich hier nach Ebbe und Flut richten, wissen Sie«, erläuterte er. »Daher die Gezeitentabelle am Empfang.«

      »Ach, ich Dummerchen«, lachte Carmen und zündete sich eine zweite Zigarette an. »Na, wie dem auch sei. Viel Spaß Ihnen beiden!«

      Kokett schlug sie ihre Beine übereinander und in ihrem Gesicht lag Triumph. Jetzt hatte sie die ganze Hollywoodschaukel für sich allein.

      *

      Später auf dem Watt waren Elfriede und Max endlich unter sich. Die alte Frau stocherte wie gewohnt mit dem Spazierstock in der rechten Hand im Schlamm herum, mit der linken hatte sie sich bei ihrem Großneffen untergehakt.

      »Carmen ist ja eine unmögliche Person«, urteilte Elfriede. »Gibt sich als Endvierzigerin aus und ist eindeutig Mitte Fünfzig. Ich hoffe, Gustav weiß das auch.«

      »Falls nicht, wirst du es ihm verraten«, schmunzelte Max. »Auf deine einfühlsame, sensible Art.«

      »Worüber habt ihr denn auf der Terrasse so gelacht?«, wollte Elfriede wissen.

      Max berichtete von dem Gespräch über Ole und seine Großtante war sichtlich erheitert.

      »Schade, dass Ole nicht mitgehört hat«, grinste sie. »Seinem Ego hätte das gut getan. Doch ich sollte nicht zu gehässig sein. Er will mir sein nächstes Werk widmen.«

      Trotz der nächtlichen Dunkelheit konnte Max erkennen, wie sich ein Schleier von Zufriedenheit über ihr Gesicht legte. Er freute sich für die alte Frau und gönnte ihr eine stille Minute romantischer Träumerei, ehe er das Thema ansprach, was ihn schon den ganzen Abend beschäftigte.

      »Der Kaffeeautomat, Oma Friede… Musste der wirklich sein?«

      »Na, höre Mal, min Jung, das ist heutzutage selbstverständlich für unsere Gäste. Die Kaffeegewohnheiten sind vielfältiger geworden als früher. Du in deinem Alter solltest das am besten wissen.«

      »Ja, schon klar«, erwiderte Max. »Aber eine Pension ist doch kein Service-Hotel. Ich fürchte, die typische Gemütlichkeit des Wattenstiegs geht verloren, wenn du dich mehr und mehr dem Mainstream anpasst.«

      »Mainstream?«, fragte Elfriede und blieb stehen. »Was meinst du?«

      »Ich meine damit nicht nur den Kaffeeautomaten. Das nächste wird ein Fernseher auf jedem Zimmer sein, ein 5-Gänge-Menü und Wi-Fi-Zugang für alle.«

      »Und was wäre daran so schlimm?«

      »Die Pension ›Zum Wattenstieg‹ ist deswegen so beliebt, weil sie so ursprünglich ist. Altmodisch, intim, geborgen… Die Leute kommen,