Barfuß ins Verderben. Bernharda May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernharda May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750276383
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vom Regal genommen«, stellte Elfriede fest.

      »Ja, das habe ich«, gab Ole freimütig zu. »Ich mag es nicht, wenn du sie immer so vor das Bild stellst, dass ausschließlich Gerda zu sehen ist.«

      »Mich sieht man in diesem Hause genug«, entgegnete Elfriede. »Da braucht nicht noch alte Bilder von mir.«

      Sie schaute hinter den Tresen, fand dort die Vase und stellte sie zurück auf das Regal. Die Dahlien arrangierte sie mithilfe des Spazierstocks, bis die ihr eigenes Gesicht aus Jugendjahren verdeckten und nur ihre Schwester zu sehen war.

      »So, Gerda, jetzt empfängst du die Besucher wieder allein«, sprach sie zärtlich zu dem Bild.

      Zu Ole gewandt, sagte sie streng:

      »Sie war es, die die Idee für unsere Pension hatte, und sie soll mit diesem Porträt gewürdigt werden. Es ist das Einzige, was Gustav von ihr gemalt hat. Lass also die Vase nächstes Mal so stehen, klar?«

      »Klar«, sagte Ole.

      Aber beide wussten, dass er log. Er würde beim nächsten Mal, wenn er seine Freundin besuchte, wieder die Vase wegnehmen, so wie er es immer tat, und Elfriede würde wieder mit ihm zanken. Das war bei ihnen zu einem traditionellen Spiel geworden, und sie spielten es im stillen Gedenken an Gerda. Jene nämlich hatte Neckereien solcher Art sehr gemocht.

      »Lass dich von Dr. Drozdowski zu einem Experten überweisen«, riet Ole, während er aus der Haustür trat. »Du gefällst mir in letzter Zeit gar nicht.«

      »Wenn ich die Zeit dafür finde«, versetzte Elfriede. »Jetzt muss ich mich erstmal um meine Gäste kümmern. Bis morgen, mein Lieber!«

      Mit diesen Worten schloss sie die Haustür. Ole Klävers schlenderte gemächlich zu seinem eigenen Häuschen zurück, das nur wenige Schritte von der Pension entfernt war. Er lauschte den Wellen der Nordsee, deren Flut sich langsam über das Watt von Frankenhorn ausbreitete, und blubberte dabei etwas vor sich hin, was ganz und gar nicht poetisch war. Im Gegenteil.

      »Elfriede, Elfriede, du wildes Ding. Noch im Alter spielst du mit den Männern und brichst einem jeden das Herz. Na, du wirst schon sehen, was du davon hast!«

      Er hielt inne, zog den Zettel mit seinem Gedicht aus der Hosentasche, dazu einen Kugelschreiber, und machte sich eilige Notizen.

      2. Die Wattenelfriede

      Die Pensionsmutter schloss die Haustür und schlurfte zurück zum Empfang. Sie verglich die Zeiger der Standuhr mit der Zeitangabe auf dem Computerbildschirm, der auf dem Tresen stand, und war zufrieden. In einer Viertelstunde würde Sandrine servieren. Zeit genug, um nach Oles Besuch ihre kleine Stube aufzuräumen oder wenigstens die Teetassen zu holen und auszuspülen. Mit dem dummen Stock in der Hand war das allerdings nicht einfach zu verwirklichen. Daher änderte sie ihren Plan.

      »Wattenelfriede, du lässt deine Privatgemächer Privatgemächer sein und schreitest nun den Flur Richtung Esszimmer entlang«, befahl sie sich selbst, wie es ihr seit dem Tod ihrer Schwester zur Gewohnheit geworden war. »Tischdecken ist angesagt. Die Gäste gehen vor.«

      »Wattenelfriede« war ein Spitzname, den ihr vor Jahrzehnten ein Stammgast gegeben hatte und dessen sich seitdem viele Besucher ihrer Pension bedienten. Sie hörte ihn gerne und bereute es, bei der Eröffnung ihres Hauses nicht von selbst drauf gekommen zu sein. Statt »Zum Wattenstieg« hätte sie die Pension dann »Wattengerda« getauft (immerhin stammte die Idee für dieses Haus ja von ihrer Schwester), eine Bezeichnung, die Touristen neugierig machen würde und sympathisch klang. Doch der eigentliche Name »Zum Wattenstieg«, der sich in der unmittelbaren Nähe der Pension zum Watt begründete, hatte sich damals bereits durchgesetzt; und Gerda – das war das traurige zweite Gegenargument – war zu jenem Zeitpunkt, als der Stammgast seinen Einfall hatte, leider längst verstorben.

      »Der dumme Autounfall«, murmelte Elfriede. »Was hat er nicht alles kaputt gemacht.«

      Sie dachte an den sentimentalen Ole, der ursprünglich Gerda hatte heiraten wollen und sich nicht daran störte, dass sie eine uneheliche Tochter hatte. Und sie dachte an Irmi, eben jene Tochter, die bei Gerdas Tod glücklicherweise noch jung genug gewesen war, dass sie den Verlust kaum gespürt hatte. Allerdings wäre später, als sie heranwuchs, der strenge Rat der leiblichen Mutter viel wirksamer gewesen als Elfriedes tantenhafte Warnungen hinsichtlich ihrer männlichen Verehrer. Mit Gerda an ihrer Seite wäre Irmi nicht an ihrer schlimmen Ehe zerbrochen, da war sich Elfriede gewiss.

      Sie betrat den Speiseraum, das einzige wirklich geräumige Zimmer der Pension, und betrachtete die Bilder an der Wand. Viele Gäste hinterließen Fotografien von sich als Andenken, oft mit Unterschriften und Grüßen, und Elfriede hing die meisten an der Wand hinter dem Esstisch auf. Andere schmückten die Diele. Einige der Fotos waren sogar noch schwarzweiß, und auf einem von denen erkannte sie den Stammgast, der sie zum ersten Mal Wattenelfriede genannt hatte. Jetzt erinnerte sie sich an seinen Namen.

      »Ulf Meininger«, sagte sie laut. »So hieß er. Wir waren auf einer Wattwanderung und er sagte plötzlich ›Wattenelfriede‹ zu mir und alle anderen lachten.«

      Er war noch oft in ihre Pension gekommen und hatte keinen Hehl daraus gemacht, an der aufblühenden Irmi Gefallen zu finden. Die war sich jedoch zu fein gewesen für »den alten Meininger«, wie sie ihn abfällig genannt hatte, und war stattdessen auf einen Motorrad fahrenden, frechen Strolch hereingefallen.

      »Schon komisch«, seufzte Elfriede und bezog sich damit auf den Umstand, dass sie in letzter Zeit immer öfter von melancholischen Erinnerungen überwältigt wurde. Vielleicht hatten ihre Zukunftspläne damit zu tun, vielleicht war es das Alter.

      »Sandrine«, rief sie laut. »Du hast ja den Tisch schon eingedeckt! Das wollte ich doch tun.«

      »Das war ich nicht«, schallte eine helle Stimme mit leichtem französischen Akzent aus der Küche zurück, »ich habe Immanuel gesagt, das zu tun. Er kann sich ruhig nützlich machen, finde ich.«

      Wie aufs Stichwort trat Immanuel Stuber in den Speiseraum, die Hände voller Besteck. Er war ein blasser, sehr schlanker Mann mit Drei-Tage-Bart und länglichen Haaren, der immer barfuß ging. Sorgsam legte er das Besteck neben die Teller.

      »Ich helfe gern«, sagte er, »wo ich doch zum halben Preis hier wohnen darf.«

      »Unser Deal war, dass Sie Sandrine die Künste veganer Küche beibringen«, entgegnete Elfriede, »und nicht ihre Hausarbeiten übernehmen.«

      Immanuel winkte ab.

      »Machen Sie sich keine Gedanken. Sandrine lernt schnell und ich hätte ein schlechtes Gewissen, nur wegen der paar Tipps und Rezepte, die ich ihr gebe, bevorzugt zu werden. Wir können aber gern einen neuen Deal aushandeln und ich zahle doch den vollen Preis?«

      »Ein mittelloser Student wie Sie«, wehrte Elfriede ab. »Kommt nicht in Frage.«

      Insgeheim war sie froh, dass jemand ihr ein paar lästige Handgriffe abnahm, jedenfalls solange, bis Dr. Drozdowski endlich eine Erklärung – und viel wichtiger, eine Behandlung – für ihre Herzprobleme gefunden hatte.

      Sandrine trat herein und ihre hochgewachsene Erscheinung beherrschte augenblicklich den Raum. Sie war jung, dunkelhäutig und strahlte immenses Selbstbewusstsein aus. Während sie ihre Blanquette de la mer auftischte, schallte es laut aus ihrer Kehle:

      »Dîner!«

      Man hörte Schritte aus dem oberen Stockwerk, wie sie über die Diele hetzten, die Treppe hinabliefen und sich dem Speiseraum näherten. Herr von Voss trat ein, nickte den anderen zu und setzte sich. Sandrine begann, die Teller zu füllen, und bewegte sich dabei ausgesprochen elegant.

      »Monsieur, falls Sie den Kabeljau nicht mögen, müssen Sie mit Immanuel den Gemüseauflauf teilen. Ich weiß ja, dass Sie mit Fisch auf Kriegsbeil stehen, wie man hier sagt.«

      »Auf Kriegsfuß«, berichtigte Immanuel und reichte Herrn von Voss freundlich die Schüssel mit dem Auflauf hin. »Das Kriegsbeil begräbt man, wenn man sich versöhnt.«

      »Bon«,