Barfuß ins Verderben. Bernharda May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernharda May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750276383
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sondern über die Nordsee, als sie antwortete:

      »Fehlernährung! Sie klingen schon wie einer meiner Gäste, wie dieser Veganer. Ich esse, wie ich immer gegessen habe, und gehe mit einem guten Glas Milch zu Bett. Das galt zu meinen Zeiten als gesund und da lasse ich mir weder von Ihnen noch von Herrn Stuber etwas anderes einreden. Sandrine hingegen hat sich nicht in unsere Angelegenheiten zu mischen.«

      Rita Drozdowski sagte nichts. Sie spürte, dass die Wattenelfriede noch weitersprechen würde, wenn man sie nicht unnötig unterbrach.

      »Was die Überarbeitung und mein Alter angeht«, ächzte Elfriede schließlich, »mögen Sie sogar recht haben. So eine Pension kann sich allerdings nicht von allein führen. Mit etwas Glück ist bereits nächstes Jahr alles geregelt und ich habe meinen Ruhestand.«

      »Das klingt gut in meinen Ohren«, sagte die Ärztin. »Ich drücke die Daumen, dass Ihre Pläne gelingen.«

      Gern hätte sie gewusst, wie jene Pläne genau aussahen, aber Elfriede schenkte ihr keine Gelegenheit zu fragen.

      »Bis dahin brauche ich aber etwas, das mir bei den Herzanfällen hilft, Frau Doktor«, sagte sie mürrisch. »Lassen Sie sich was einfallen! Und kommen Sie mir nicht mit irgendeinem homöopathischen Stuss.«

      Die Wattenelfriede war zwar bekannt dafür, manchmal etwas ruppig daher zu reden, doch solche Aggressivität überrumpelte die Ärztin. Vielleicht war etwas dran an dem Gerücht, sie sei im Kopf nicht mehr ganz die Alte. Jemand, der es wissen musste, hatte es unlängst Rita Drozdowski anvertraut, und sie überlegte kurz, ob Elfriedes Beschwerden womöglich psychische Ursachen haben könnten.

      Ein Jammer, dass ich nicht näher mit ihr befreundet bin, dachte sie bei sich. Sonst könnte ich mich einmal zum Abendessen einladen und mir ein Bild über die Verhältnisse machen.

      Laut sagte sie:

      »So, genug geklönt fürs Erste. Ich muss nun weiter, die Praxis ruft. Passen Sie auf sich auf und gönnen Sie sich mehr Ruhe. Und kommen Sie diese Woche bitte nochmal in meine Sprechstunde.«

      »Das geht nicht«, wandte Elfriede ein. »Mein Großneffe kommt heute, und der Herr Martens mit Begleitung, und ich hab alle Hände voll zu tun.«

      »Lassen Sie sich von Ihrem Großneffen helfen. Er sollte alle Hände voll zu tun haben und nicht Sie. Ich verspreche Ihnen, dann werden sich Ihre Beschwerden schnell bessern. «

      »Wenn Sie meinen«, erwiderte Elfriede skeptisch. »Denn erstmal tschüs.«

      Die alte Frau ging zu exakt jener Stelle im Watt zurück, von der aus sie auf Zuruf der Ärztin von ihrer ursprünglichen Route abgewichen war. Die Flut kam mit ruhigen, fast schon schüchternen Wellen heran und hatte bereits einige der Fußspuren weggespült, doch Elfriede fand mit untrüglichem Instinkt ihren Weg. Rita Drozdowski sah ihr noch eine Weile hinterher.

      Immerhin ist sie hinsichtlich ihrer Wattspaziergänge ganz die Alte, dachte sie. Fragt sich nur, für wie lange noch.

      4. Max

      »Zum Wattenstieg« – schon der liebevoll geschnitzte Wegweiser, der an der Straßenecke stand, erfüllte Max mit Vorfreude. Er verließ den Pflasterweg und lief, das Gewicht seines Rucksacks kaum spürend, die Holzbretter entlang, bis er vor der Pension seiner Großtante stand.

      Kaum zu glauben, dachte er. Er war höchstens anderthalb Wochen fort gewesen und hatte trotzdem sein Zuhause unglaublich vermisst.

      Er brauchte nicht zu klingeln, denn selbstverständlich besaß er einen Schlüssel. Bereits in der Diele roch es nach Sandrines köstlichem Essen. Auf dem Tresen des Empfangs lagen die bekannten Prospekte über Sehenswürdigkeiten der Umgebung, an der Wand dahinter hing die aktuelle Gezeitentabelle. Auf dem Regal war keine Vase zu sehen und beide Schwestern – Elfriede und Gerda – sahen von ihrem Doppelporträt zu ihm herab.

      »Das heißt, Ole ist schon da«, folgerte Max.

      Bevor er in den Gesellschaftsraum ging, wo er die anderen vermutete, brachte er sein Gepäck nach oben; natürlich hatte er als »Enkel des Hauses« sein eigenes ständiges Zimmer. Dort machte er sich kurz frisch und suchte anschließend seine Großtante auf.

      »Oma Friede«, rief er und umarmte sie.

      Nur er durfte sie so nennen, obschon sie gar nicht seine richtige Oma war.

      »Wie geht es dir? Du hast gestern geschrieben, du würdest dich krank fühlen?«

      »Nicht wohl«, berichtigte Elfriede ihn. »Ich schrieb, ich fühle mich nicht wohl. Das ist etwas anderes als krank! Aber nun, wo du da bist, geht es mir viel besser. Wer weiß, vielleicht trifft Dr. Drozdowskis Prophezeiung ein und deine Anwesenheit wirkt wie ein Heilmittel.«

      Max merkte, wie seine Großtante mit jedem Wort mehr und mehr aufzublühen schien. Rosige Wangen, leuchtende Augen – so hatte ihn in seinem Ferienjob niemand angestrahlt.

      »Hast es in der Großstadt nicht lange ausgehalten, wie?«, fragte Elfriede.

      »Ach, weißt du… Ich erwarte ja nicht viel, wenn ich als Aushilfe jobbe, aber wenn man bei Betrieben wie T-raq von Anfang an nichts weiter tun darf, als den Laufburschen zu markieren, wie soll man da vorankommen? So geht man doch nicht mit jemandem um, der offen über einen Quereinstieg nachdenkt! Da schmeiß ich den Job lieber hin.«

      »Wie so vieles andere«, kommentierte jemand von der Seite und Max drehte sich um. »Die Ausbildung zum PTA hast du ja auch hingeschmissen. Wer war damals schuld? Die launische Apothekerin? Die leidigen Allergien?«

      Natürlich, Ole Klävers. Sein abschätziger Blick prallte an Max ab. Der alte Mann hatte nie verstehen können, warum ein junger Mensch eine Ausbildung abbrach oder ein Praktikum verwarf. Schon absurd, dass ausgerechnet einem Dichter dafür die Fantasie fehlte.

      »Ich finde schon irgendwann das Richtige für mich«, sagte Max und reichte Ole versöhnlich die Hand.

      Der strich sich erst seine weiße Strähne von der Stirn, ehe er sie schüttelte.

      »Du weißt, ich habe Kontakte«, sagte er ernst. »Ich kann dich in einem Verlag oder bei einer Zeitung unterbringen. Du musst nur wirklich wollen und den nötigen Fleiß zeigen.«

      Max nickte höflich, verzichtete aber auf eine Antwort. Derweil ertönte ein gutherziges Lachen aus einer anderen Ecke und Gustav mischte sich ein:

      »Nimm den Jungen nicht so streng ins Gericht, Ole. Er ist eben ein Lebenskünstler. Ein Freigeist, der seinen Prinzipien treu bleibt.«

      Er trat an Max heran und drückte ihn fest an sich.

      »Schön, dass wir uns wiedersehen, Kleiner.«

      Max freute sich zwar ebenfalls, auf die Umarmung hätte er aber gern verzichtet. Gustav J. Martens, der bekannte Maler, war ein kräftiger, großer Mann, der nur mit seinen Pinseln und Stiften zärtlich umging. Alle anderen fasste er mit liebevoller Grobheit an, weil er es einfach nicht besser konnte. Die Folge war, dass Freunde und Bekannte seine Zuneigung auf eher schmerzhafte, denn zärtliche Weise zu spüren bekamen.

      Im Gegensatz zu Ole hatte Max den Künstler schon lang nicht mehr gesehen. Er sah keinen Deut älter aus als vor fünf Jahren, was im Großen und Ganzen seiner Glatze zu verdanken war. Max schwor sich, sein eigenes Haupt gleichfalls glatt zu scheren, sobald das erste graue Haar zu sehen war. Hoffentlich würde ihm das ebenso gut stehen wie Gustav.

      »Darf ich dich von Oles lehrmeisterhaften Ratschlägen befreien und dir meine zauberhafte Begleitung vorstellen?«, fragte Gustav und führte Max quer durch den kleinen Gesellschaftsraum, hin zum Fenster. »Das ist Carmen.«

      Vor Max stand eine Dame mittleren Alters, die ein rot-schwarzes Cocktailkleid trug, dazu silbernen Schmuck an Hals, Armen, Fingern und Ohren. Sie begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln und zeigte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne zwischen ihren vollen, tiefroten Lippen.

      »Ah, der junge Max! Freut mich sehr. Gustav hat viel von Ihnen erzählt.«

      »Tatsächlich?