Wie antizipiert wandern die Daten an denselben Speicherort, an dem alle Aufzeichnungen von uns landen, und ich sehe mein komplettes Leben vor mir in Daten. Bilder, Videos, Texte, alles ist hier gesammelt. Chronologisch. Und so ist mein Ziel einfach zu finden.
Während ich in Einzelteile zerlegt meinen Speicherort verlasse und weiter an dem Datenmeer entlangschwebe, wird mir das wahre Ausmaß erst wirklich bewusst. Hier ist alles gespeichert. Jeder Moment meines Lebens. Und ich fühle mich betrogen. Wut steigt in mir auf.
Ich wusste es.
Jeder weiß es.
Und doch ist es so unermesslich viel. So unermesslich beleidigend. Alles was mich ausmacht ist hier gesammelt. Nicht ein Moment meines Lebens gehört wirklich mir. Mir alleine. Können sie auch in meine Gedanken dringen?
Gefühle, die körperliche Folgen haben, sind aufgezeichnet, so viel weiß ich. Aber können sie meine Gedanken lesen? Mein Verhalten antizipieren? Könnten sie aus all den Daten einen Klon von mir erschaffen, der glauben würde, er wäre echt?
Bin ich wirklich und wahrhaftig ich?
Ein Mensch? Ein Individuum? Bin ich Noem oder nur eine Reproduktion einst gesammelter Daten? Sind wir alle nur Klone? Bin ich ein Klon? Wenn jeder von uns wahrhaftig wäre und einzigartig, wozu benötigt man dann diese akribische Datenansammlung?
Zur Reproduktion? Zur Analyse?
Wir werden in Brutkästen von Computern gezeugt, geformt und nach Wunsch angefertigt. Eine kalte Fusion von manipulierter DNA und vorbereiteten Zellen.
Und ich zweifle plötzlich an meiner Existenz. An meiner Einzigartigkeit. Ich fühle mich wie ein Produkt, eine Laborratte – die Definition von Freiheit entgleitet mir.
Und doch bewege ich mich gezielt weiter.
Bin ich auch nicht mehr als ein Programm?
Lebe ich oder existiere ich nur?
Ich schwebe weiter vorbei an den Minuten, Stunden, Wochen, Monaten und Jahren meines Lebens. Bis ich an dem Nullpunkt angelangt bin. Ich bin so sehr von mir eingenommen, dass ich nicht einen Gedanken daran verliere, wie es Karina und Avna geht.
Ich bin vorbereitet gewesen. Ich wusste, wohin mein Weg mich führt, was mich am Ende erwartet. Und doch bin ich sprachlos, verwirrt und betroffen.
Dann sehe ich sie vor mir.
Die Liste meiner Eltern, die mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Zeugungslisten sind nicht öffentlich zugänglich, sie werden nach der Einarbeitung versiegelt. Selbst für die Eltern sind sie nicht mehr exakt nachvollziehbar und zugreifbar. Dennoch sind sie nicht geheim und können auf Anforderung eingesehen werden. Das passiert allerdings nur selten. Selbst wenn mein Programm auffliegt und unser Infiltrieren bemerkt wird, werden die Konsequenzen überschaubar sein.
Ich unterdrücke den Drang, wie einst Nero Rom die akribisch gesammelten Daten in Schutt und Asche zu legen, und konzentriere mich auf die Liste.
Die aufgelisteten Eigenschaften sind trivial. Unbedeutend. Sie haben keine klare Linie. Als hätte sie jemand bei einem Spiel ausgewürfelt. Dass ich lebensfähig bin, erscheint mir wie ein Wunder.
Ich möchte es nicht, will die Liste vernichten, doch das Programm, das ich geschrieben habe, ist perfekt und zieht eine Kopie. Auch Karina und Avna werden aus dem Strom eine Kopie ihrer Listen mitnehmen. Der Datenname wird verändert, der Inhalt aber der richtige sein.
Beim nächsten Datenverkehr werden wir herausgesogen. Nicht mehr als ein kurzer Datenstau wird in dem System vermerkt.
Wir sind zurück in dem Raum mit den Spiegeln, der der Form nach als Datenstrom realer wirkt und sich echter anfühlt, als mein eigener Körper es bisher getan hat.
Drei Disks erscheinen auf dem kleinen Tisch. Die programmierten Stimmen verstummen und ich durchbreche die Stille. „Hier sind die Kopien unserer ersten Aufzeichnungen. Alle drei Varianten sind darauf.“
Avna ignoriert die Disk und loggt sich wortlos aus dem Chat.
Karinas Avatar wirft mir einen bösen Blick zu und verschwindet, jedoch nicht, ohne nach einer der Disks zu greifen.
Ich bleibe alleine im Chat zurück, maskiere die Daten erneut als Erinnerungsprotokolle mit einem veralteten Datum, lösche Avnas Disk und logge mich ebenfalls aus.
Ich fühle nicht den Triumph, den ich erwartet habe.
Im Gegenteil. Es fühlt sich nicht danach an, als hätte ich das Programm umgangen und unbemerkt Daten gezogen. Die Bitterkeit in meinem Mund schmeckt nach Manipulation. Als wäre ich eine Puppe, an deren Fäden man gezogen hat. Als hätte man mich manipuliert.
Ein Lachen entreißt sich meinen Lippen.
Was für ein dämlicher Gedanke.
Natürlich bin ich manipuliert.
Wenn nicht ich, wer dann auf diesem gottverlassenen Planeten mitten im Weltall?
Karina – Unfall
„In einer Welt, in der die wichtigsten Grundbedürfnisse für alles abgedeckt sind, wechselt der Fokus vom wirtschaftlichen Denken in Form von Geldwerten in Genusswerte. Wenn Existenzbedürfnisse, wie ausreichend Nahrung und Wasser, Luft, Kleidung, Wohnraum und medizinische Versorgung, abgedeckt sind. Wenn Grundbedürfnisse, wie saubere Luft, sauberes Wasser und Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Krankenversorgung garantiert werden, kann der Mensch sich seinem Kulturbedürfnis widmen und der Wert von etwas wird nicht mehr in Geld gemessen, sondern in Freude und Genuss. Unser Leben wird bereichert werden und nicht mehr länger eine virtuelle Zahl in einem unstabilen System der Gier sein. Kreativer Ausdruck und Bildung werden zum Mittelpunkt der idealen Gesellschaft. Ich kann für euch solch eine Welt erschaffen, wenn ihr mich lasst.“
Programmierer 2073
Heute ist der Tag. Ich bin nervös. Das kenne ich sonst nicht von mir und ich gebe Noem die Schuld dafür. Warum hat er uns in sein dummes Experiment miteinbezogen? Ich will ihn nicht sehen, ignoriere seine Coms.
Auch die von Avna.
Warum hat es diese Woche sein müssen? Warum so kurz vor dem Intergemeinschaftsrennen? Ich habe lange und hart für diesen Tag trainiert. Wochen, Monate – gefühlt mein ganzes Leben. Und was habe ich die letzten Tage nach dem digitalen Höllenritt getan? Neue Rekorde aufgestellt? Wahrlich nicht. Meine alten Rekorde gehalten? Ich bin nicht einmal in die Nähe gekommen.
Immerzu musste ich an diese blöde Liste denken. An die Eigenschaften, die mich noch vor meiner Geburt ausmachten, nach denen ich wie ein Matschkuchen in einem Sandförmchen in eine Form gepresst wurde, die man sich gewünscht hat. Die sich meine Eltern gewünscht haben.
Ich dachte, wenn ich Noems und Avnas Listen anschaue, würde es mir besser gehen. Doch es wurde schlimmer. Ich wünschte, ich hätte sie zurückgelassen, wie Avna es getan hatte. Das Wissen, dass auch sie zusammengewünscht worden waren, hilft mir nicht. Auch wenn der Prozess der gleiche war, sind die Ausgangspunkte zu verschieden. Als würde ein Fisch versuchen zu fliegen und ein Adler zu schwimmen.
Meine Eigenschaften waren geradlinig, eindeutig.
Avnas und Noems … nicht. Avnas waren wage, wie der Rauch, der je nach Windrichtung seine Form ändert und sich anpasst. Noems widersprüchlich und uneins.
Und all das habe ich bereits vor der Liste gewusst.
Macht es einen Unterschied, zu wem wir geworden sind?
All diese Fragen haben sich in meinem Kopf ineinander verheddert und meine Beine in tollpatschige Gummistangen verwandelt, die sich gerne ineinander verfangen.
Eine