Welchen Weg wirst du gehen, wenn man dich vor die Wahl stellt?
Avna – Trennung
„Sie werden sagen, dass ich euch belüge. Dass die Welt, die ich für euch schaffen werde, einen Preis hat. Einen hohen. Alles hat einen Preis. Und das Utopia, das ich für euch erschaffen werde, wird gepflastert sein mit der Habgier der Großkonzerne, der Unersättlichkeit von Regierungen, die unter dem Mantel der Demokratie und Freiheit eure Kinder in einen Krieg schicken, sowie dem gehirnauflösenden Einfluss der Medien, die in euch nicht Menschen, sondern Konsumenten sehen.“
Programmierer 2069
Seit ich mich erinnere, waren sie immer an meiner Seite. Meine Freunde, Spielkameraden und Mitentdecker. Zusammen haben wir Würmer gegessen, Wolken gejagt und nach Luft gegriffen.
Dass der Tag kommen sollte, an dem wir getrennte Wege gehen werden, hätte ich mir nie erträumen lassen. Und doch ist es so augenscheinlich. So offensichtlich. Mir steigen die Tränen in die Augen.
„Jetzt weine doch nicht, Avna! Nur weil wir uns nicht mehr andauernd sehen, heißt das noch lange nicht, dass wir keine Freunde mehr sind.“
Ich höre Zweifel in Karinas Stimme und schluchze.
„Blödi! Was hast du denn gedacht, was passiert? War doch klar, dass wir in andere Interessenspuppen kommen“, brummt Noem mit gerunzelter Stirn.
„Gruppen. Interessensgruppen“, korrigiert ihn Karina.
„Puppen, Gruppen, Poppeln. Ist doch wurscht. Meine Mutter hat schon früh gesagt, dass wir zu verschieden sind und es ein Wunder ist, dass wir überhaupt schon so lange befreundet sind.“
Noems Worte brechen den Damm und ich heule Rotz und Wasser.
„Was hast du nur wieder angestellt, Noem? Wie beruhigen wir sie jetzt? Wenn sie so verheult in die neue Gruppe kommt, findet sie keine Freunde.“
Karinas Worte helfen nicht. Sie verschlimmern die Sache und ich plärre wie ein dreijähriges Baby, dabei bin ich schon zehn.
„Okay, okay … Avna. Es tut mir leid. Wir sind Freunde. Wir bleiben Freunde. Auch wenn wir nicht allen Unterricht zusammen haben, gibt es Fächer, die wir zusammen hassen können“, sagt Noem und tätschelt mir ungeschickt den Kopf.
„Wirklich?“, frage ich und hickse. Aus dem Augenwinkel sehe ich Nanny einen Schritt auf mich zukommen. Karina schüttelt den Kopf und Nanny bleibt wie ein Eiswürfel, an einer Zunge festgefroren, stehen. Das Erlebnis mit dem Eiswürfel hatte ich selbst einmal. Ich erinnere mich noch an den Schmerz, als ich ihn aus Panik mit einem Ruck losgerissen habe. Der Gedanke hilft nicht, die Tränen zu stoppen.
Alle sagen, dass es immer offensichtlich war, was wir wählen und was unsere Tests ergeben würden. Warum? Woher weiß man, was mir Spaß macht, was ich lernen will und was ich gut kann? Müssen das dieselben Dinge sein?
„Wir können Mathe weiterhin zusammen hassen“, versucht Noem es erneut.
„Du magst Mathe. Du magst alle Fächer, in denen du besser bist als alle anderen“, werfe ich ihm vor. Wenn jemand Mathe hasst, dann bin ich das. Außerdem wird Noem bestimmt in die höhere Mathematik eingestuft werden. Da bin ich sicher. Mathe ist kein gutes Thema, um mich zu beruhigen. Wirklich nicht.
„Wir können Biologie hassen. Oder Geschichte“, fügt Noem, seinen Fehler erkennend, schnell hinzu.
„Gemeinschaftskunde“, wirft Karina ihr Hassfach mit in den Topf.
Es zeigt, wie unterschiedlich wir sind und es macht mich traurig. Ich muss wieder losheulen. Doch dieses Mal ist es ein tieferes Gefühl der Erkenntnis, das die Tränen fließen lässt. Das, was gerade passiert, was sich vor wenigen Sekunden unglaublich ungerecht angefühlt hat, hat eine Existenzbasis.
Ich hasse Mathe, Noem liebt Zahlen.
Karina hasst Gemeinschaftskunde, während es zu meinen Lieblingsfächern gehört. Was für Karina sinnloses Gequatsche ist, entführt mich in andere Welten, die greifbar nahe sind. Verschiedene Arten des Zusammenlebens faszinieren mich und ich freue mich darauf, sie eines Tages mit eigenen Augen sehen und erfahren zu dürfen. Mit Menschen zu reden, die so vollkommen anders aufgewachsen sind als ich.
Ich kann es nicht erwarten, die Ähnlichkeiten zwischen den Unterschieden zu entdecken. Und dieser Gedanke ist es, der mich etwas beruhigt. Wenn ich es wirklich wollen würde, könnte ich an Karinas oder Noems Seite bleiben. Doch das würde bedeuten, dass ich dafür ein großes Stück von mir selbst aufgeben müsste.
Wenn ich bei Karina bleibe, werde ich zwar Zeit mit ihr verbringen, aber der Gedanke ständig nur zu trainieren, um immer schneller rennen, springen oder werfen zu können, erfüllt mich mit Unruhe. Ich bin nicht gut in Sport. Mir fehlt der Ehrgeiz. Ich finde nichts an dem Gedanken, am schnellsten laufen zu können.
Wenn ich bei Noem bleibe, würde ich in einer Welt aus Zahlen und Bildschirmen untergehen. Ich bewundere sein Streben danach, eigene Programme schreiben zu können, anstatt auf die existierenden Standards zurückzugreifen. Doch das geht über meinen Horizont hinaus. Ich verstehe jetzt schon nicht mehr, was er mit seinen Hologrammen anstellt. Wie sollte es erst werden, wenn die Materie vertieft wird?
Nein, keines der beiden Interessenfelder sagt mir zu. Ich bin nicht dafür geeignet. Weder für Sport noch für Computer.
Allerdings gab es in der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, sicher etwas, das wir gerne gemeinsam getan haben – von Matschessen mal abgesehen. Es gibt bestimmt etwas, das uns verbindet.
„Können … können wir auch etwas zusammen mögen?“, schluchze ich und Karina nimmt mich lachend in den Arm. Kurz fühle ich mich geborgen. Als sie sich von mir entfernt, ist der Schmerz jedoch noch größer. Ich will wieder weinen. Doch ich reiße mich zusammen, schlucke die Angst herunter, die ich jetzt erkenne. Es ist nicht nur, dass ich Karina und Noem nicht verlieren will: Vor allem aber möchte ich nicht alleine sein.
Das vollkommen Fremde macht mir Angst. Im Fremden jedoch liegt, wenn man den Mut findet danach Ausschau zu halten, Vertrautes.
Und so gehen wir, jeder mit Aufregung, Angst und einem Traum im Herzen, in verschiedenen Richtungen die Schulgänge entlang.
Karina geht zum Sport.
Noem geht zum Programmieren.
Und ich? Ich gehe in Richtung Kunst.
Nanny folgt mir schweigend. Ein Teil von mir wünscht sich, dass sie mich in den Arm nehmen würde. Doch dafür würden die anderen mich auslachen. So wie Noem mich immer deswegen auslacht. Während das bei Noem noch in Ordnung ist, will ich dagegen nicht, dass die anderen Kinder über mich lachen.
Nanny nimmt mich bei der Hand.
Ich versteife mich kurz, finde jedoch Sicherheit in der kalten, vertrauten Textur.
Warum können wir nicht weiterhin in bunt zusammengewürfelten Gruppen spielen und lernen? Warum muss man uns bewerten, aufteilen und nach Daten zusammensetzen? Die Zweifel ergreifen wieder von mir Besitz, spülen die Erkenntnis, die mich vor einigen Momenten noch erfüllt hat, hinfort.
Nanny sagt, damit wir besser lernen können. Kinder um uns haben, die wie wir sind, die gleichen Interessen teilen und dasselbe lernen wollen.
Es klingt logisch. Wie alles, was Nanny sagt. Doch als ich in die Runde blicke und mir keines der Gesichter bekannt vorkommt, will ich zurück zu Karina, auch wenn sie mich bemuttert und nicht als gleichrangig betrachtet. Ich will zurück