Einen Moment sagte keiner von beiden etwas, dann erklärte Rayan: „Die Lichter der Sterne werden schon schwächer, bald kommt am Horizont der erste Lichtstreifen. Spüren Sie den Wind? Auch er kündigt die Sonne an.“
Was für eine seltsame Aussage für jemanden, der gestern noch mehrere Menschen getötet hat, zwei davon eiskalt. Sie begann zu frösteln. Es war ein Fehler hier zu sitzen - am liebsten wäre sie davon gelaufen.
Sie sprang auf und auch Rayan erhob sich. Er spürte ihren inneren Konflikt und schwieg, um ihr Zeit zu geben, ihre Gedanken zu sortieren.
Als sich in diesem Moment der Himmel erst zart rosa färbte, um dann relativ schnell Orange zu werden, war es um Carinas Selbstbeherrschung geschehen und sie begann, heftig zu weinen. Rayan trat einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie wehrte sich zuerst und wollte sich losreißen, doch er hielt sie einfach weiter fest. Nach wenigen Sekunden wurde sie still und lies ihren Tränen freien Lauf.
Sie sah nicht, wie sich die Scheibe der Sonne schnell über den Horizont erhob, denn sie hatte ihren Kopf tief in seiner Schulter verborgen. Er stand bewegungslos da, hielt sie einfach nur fest und murmelte beruhigende Worte, aber sie verstand weder den Sinn, noch hätte sie nachher sagen können, in welcher Sprache er gesprochen hatte. Was wichtig war, dass der Tonfall sie beruhigte.
Und irgendwann spürte sie die Wärme der Morgensonne auf ihrem Rücken.
Einen Moment lang genoss sie das Gefühl, dann hob sie den Kopf und sagte leise: „Die anderen werden sich schon Sorgen machen …“ Und brach damit den Bann, der sie beide umfangen hatte. Sie wollte sich aus seiner Umarmung lösen, aber er hielt sie fest: „Warten Sie noch einen Moment – es … es tut mir leid! Dass Tarek Sie geschlagen hat, meine ich, und dass ich Sie auch noch angeschrien habe. Das alles muss für Sie furchtbar fremd sein.“
Überrascht antwortete sie: „Ja das stimmt. Aber darum bin ich ja hier. Um dies alles kennenzulernen.“
Bei dieser Äußerung war es, als ob ein eiserner Vorhang Rayans Gesicht hinunterrollte. Er ließ sie los: „Ja, Ihr Buch. Ich vergaß.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sie stehen.
2001 - Oase von Zarifa - Treffen um Mitternacht
Harun Said kam wenige Minuten vor Mitternacht an der Felswand an. Doch er war nicht alleine gekommen.
Er war kein Narr. Zwar glaubte er an die Regeln der Wüste, doch dieser Fremde war ihm unheimlich und seine Absichten unklar. Und dann gab es ja noch einen weiteren Grund, warum er überhaupt erst diesem Krieg zugestimmt hatte. Davon wusste jedoch der Fremde augenscheinlich nichts. Es ging ihn im Grunde auch nichts an.
Somit hatte er seinem Unterfürsten genaue Anweisungen gegeben.
Sollte er bis zum nächsten Morgen nicht zurück sein, sollten seine Truppen erst einmal nicht wieder angreifen. Schließlich konnte es ja sein, dass er tatsächlich am Krankenbett seines Bruders saß. Wehe jedoch, er würde bis zum Abend nicht wieder da sein. Dann würden sie noch in der Nacht losziehen und mit allem losschlagen, was ihnen heilig war.
Jetzt stand er im Kreise seiner zehn besten Männer und schaute zum Stein hinauf.
Der Fremde ließ sich nicht blicken, aber zumindest auch niemand anderes, sodass es offenbar doch keine Falle gewesen war. Harun überlegte, was er nun tun sollte.
Plötzlich meinte er aus dem Augenwinkel etwas zu sehen. Er dachte erst, der Sand würde wegsacken und sprang erschrocken ein Stück zurück.
Und da stand der Fremde, sein Messer an der Kehle des Mannes, der ihm am nächsten gewesen war.
„Eine falsche Bewegung und er stirbt. Dass ich keine Hemmungen habe, habt ihr in Farah gesehen“, klirrte die Stimme. Sie war eiskalt wie Metall, das auf Metall knirscht. Der Hinweis auf den Toten in der Oase jagte einen Schauer über Haruns Rücken, er hatte den Leichnam persönlich gesehen und glaubte nicht, dass er den Anblick so schnell vergessen würde. Was war das nur für ein Mensch? Er tötete zwar keine Kinder, dafür andere Menschen umso bestialischer …
„Keiner rührt sich“, wies Harun seine Männer an.
Rayan war wütend, er hatte Said wirklich für einen Mann gehalten, der zu seinem Wort stand.
„Damit ist unsere Vereinbarung wohl geplatzt“, fuhr er Said an.
„Warten Sie, Sie müssen verstehen …“ Weiter kam er nicht. Einer seiner Männer hatte halb hinter Rayan gestanden und glaubte seine Chance sei gekommen. Und bevor er noch ein Wort hatte sagen können, stürzte sich dieser auf ihren Gegner und riss das Messer vom Hals seines Stammesbruders weg.
Im letzten Moment sah Rayan ihn kommen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den Mann zu töten, doch dann wäre jede Chance zu einer friedlichen Lösung dahin und er glaubte noch immer an Harun Said.
Also ließ er zu, dass der Mann ihm das Messer abnahm. Er schlug Rayan brutal in den Bauch und als dieser sich krümmte, rammte er ihm das Knie ins Gesicht. Rayan sah einen Moment lang nur Sterne und musste hilflos zulassen, dass er auf die Knie gezwungen wurde. Er überlegte fieberhaft, was er nun tun sollte, denn eigentlich wollte er keinen der Männer töten, doch offenbar waren sie nicht zum Reden gekommen. Er schielte nach der sandfarbenen Decke, unter der er sich verborgen hatte und die nun in greifweite neben seinem linken Knie lag.
Es war einfach Pech gewesen, dass Harun zu weit weg von seinem Versteck stand und so musste Rayan stattdessen mit dem anderen Mann vorliebnehmen.
Rayan wollte sich gerade in Richtung der Decke werfen, da traf ihn ein weiterer Schlag brutal am Hinterkopf. Saids Mann hatte mit dem Gewehrkolben ausgeholt. Er sackte benommen in den Sand, sein Gehirn schien gerade explodiert zu sein.
„Stopp! Das reicht jetzt“, bellte Harun Said „wir sind nicht hier, um ihn zu töten.“
Der Mann zog ihn wieder auf die Knie und hielt ihn in dieser Position. Rayan spürte, dass ihm Blut aus dem Mundwinkel und über den Hinterkopf lief.
„So und nun sagst du uns, wo Sarif ist, du Drecksack“, drohte sein Peiniger in Rayans Ohr.
Der schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er verstand Harun nicht mehr. Warum war der nicht einfach mit ihm gekommen? Dann hätte er das Ganze viel einfacher haben können.
Auf einmal schwante ihm, dass noch mehr dahinterstecken musste und erneut fiel ihm ein, dass er selbst es gewesen war, der sich noch vor kurzem gewundert hatte, warum ein Mann wie Harun Said sich überhaupt am Überfall auf ein anderes Volk beteiligte. Dahinter verbarg sich bestimmt eine weitere Lüge von Yuemnue.
Er spürte, dass es den Mann ärgerte, dass er ihn einfach ignorierte und dass er wieder zuschlagen wollte.
„Ich habe gesagt Stopp! Noch einmal sage ich es nicht“, wies Harun Said an, der die Absicht seines Mannes ebenfalls bemerkt hatte. Wer ihn kannte, konnte seiner Stimme entnehmen, dass er mit seiner Geduld am Ende war. Dies war nicht so gelaufen, wie er es sich gedacht hatte.
Der Fremde war offenbar ehrlich gewesen, sonst wären bereits weitere Angreifer aus ihrem Versteck gekrochen. Er war tatsächlich alleine. Nun war er derjenige, der die Wüstengesetze gebrochen hatte.
„Lass ihn aufstehen.“
Der Mann ließ Rayan los und er kämpfte sich auf die Beine. Was in dem Sand und bei seinem schmerzenden Schädel gar nicht so einfach war. Er rang kurz mit seinem Gleichgewicht.
Und sagte noch immer kein Wort. Said war am Zug und würde schon erzählen, wie es nun weitergehen sollte.
„Ihr werdet nun zurück ins Lager gehen und dort auf mich warten. Und ich werde mit ihm gehen.“ Der Mann neben Rayan schien der Wortführer der Gruppe zu sein, und holte gerade zum Widerspruch aus, doch Harun bellte, „verstanden?“, woraufhin sich der Mann kurz verneigte: „Natürlich mein Fürst.“ Und zähneknirschend zogen sie sich