Benjamin wollte seine Hand wiederhaben, ließ sie aber noch liegen und griff stattdessen mit der anderen zur Teekanne und goss sich Tee nach.
»Nein.« Er ließ sich Zeit beim Eingießen. »Du bringst mich komplett durcheinander.« Vermutlich werde ich schon wieder rot, dachte er. »Das kenne ich überhaupt nicht von mir. Sorry, wenn ich so konfuses Zeug rede.«
»Ich hätte diese andere Anzeige wohl besser nicht aufgeben sollen.« Charlotte lehnte sich in ihrem Sessel zurück, zog die Beine an und verschränkte sie auf der Sesselkante, die Tasse in der einen Hand, die andere Hand auf ihrem Oberschenkel. »Das war halb Spaß und halb psychologisches Experiment. Ich musste die ganze Zeit lachen, als ich die Anzeige aufgegeben habe. Mir sitzt eben manchmal der Schalk im Nacken. Dass du mir nicht auf dumme Gedanken kommst, ja? Außerdem hatte ich ja wirklich kleine Muschis hier«, sagte sie, unbeschwert von allen Zweideutigkeiten.
»Ja.« Benjamin hob die Augenbrauen und verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen.
»Ich fand das auch lustig. Ein netter, verspielter Scherz, nicht? Ein Grund mehr, um herauszufinden, was hinter deinen Annoncen steckte, Charlie«, gab er zu.
»Du bist auf der Suche nach etwas«, schloss sie aus seinen Worten.
»Irgendwie schon«, antwortete er. »Ich mache mir so meine Gedanken. Was ich hier soll, auf der Erde meine ich, nicht hier bei dir.« Benjamin lächelte sie entschuldigend an.
»Was ich tun oder lassen soll. Ob das alles was bringt, sich reinzuhängen, all dem nachzujagen, was geht, was andere auch machen oder haben, was wir machen können.«
Charlotte hob eine Augenbraue und zog ihre Knie an die Brust. »Aha.«
»Vielleicht gibt es was Wichtigeres als Haus, Auto, Familie, Kinder, Urlaub am Meer oder in den Bergen. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Sie trank von ihrem Tee und sah ihn wohlwollend an. »Soso. Sage ich doch, du suchst.« Sie nahm die Beine wieder runter und verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf. Benjamin konnte gar nicht hinsehen, was das mit ihrem Oberkörper machte, und schluckte.
»Erzähl mir mehr davon«, schlug sie vor. »Ich habe Zeit. Und Zen hat auch mit Loslassen zu tun. Nicht nur mit Bügeln.«
Charlotte lehnte sich zurück und strahlte ihn an. »Dann schieß mal los. Warum war denn so ein großer, hübscher Kerl wie du auf einmal nicht mehr auf Frauen scharf? Und jetzt wieder umso mehr? Spannend. Ich will das alles wissen, Bügeln können wir auch später noch.«
Es gibt nichts Richtiges im Falschen
»Das kommt natürlich alles irgendwo aus dem Kopf«, sagte Benjamin vorsichtig, nach einigem Überlegen. »Ich habe mich und andere beobachtet, überall, beim Sport, in der Disco, bei Interaktionen in großen Gruppen.« Er trank einen Schluck Tee, und Charlotte sah ihn interessiert und fragend an.
»Was mich immer gestört hat, war diese Fremdsteuerung, diese Unterwerfung unter unsere so vieles beherrschende Triebe, wie Automaten mit nur wenig Spielraum für anderes. Wir sind wie Paviane, wie Schimpansen«, erklärte er.
»Wir müssen uns gegen andere durchsetzen, den Frauen imponieren, uns rausputzen, andere weghauen. Fast alles ist vom Sex durchdrungen und bestimmt, unser ganzes Streben. Es geht immer darum, sich die besten Partner zu sichern, wenn du gesund und satt bist und ein Dach über dem Kopf hast. Oder gleich alle, auch wenn wir das gar nicht schaffen können. Wie bei den Löwen, den Hirschen, den Schimpansen. Der Stärkste begattet alle.« Charlotte sah ihn nur spöttisch an.
»Eine Zeit lang hat mich diese Erkenntnis befreit«, gab er zu. »Ich fand es affig, dieses ständige Hinterherlaufen hinter Sex und Geltungsbedürfnis. Ich fand es lächerlich, befremdlich. Ich selbst konnte richtig aufatmen und innerlich jubeln, als ich das für eine Weile los war. Ich war frei wie ein Vogel. Glaubst du vielleicht nicht, aber das war eine sehr glückliche Zeit in meinem Leben. Zu können, aber nicht zu müssen.«
»Aber das ist doch ganz natürlich, Zen«, gab Charlotte zu bedenken. »Wir alle wollen das. Wir müssen das. Darwin. Wir sind bestrebt, uns durchzusetzen, unsere Gene überleben zu lassen. Nur dadurch können wir uns anpassen, nur so als Art überleben. Wir würden uns sonst nicht weiterentwickeln. Sex macht uns stark.«
»Schon«, gab Benjamin zu. »Aber bei uns Menschen ist das viel komplexer. Bei Darwins Finken und anderen Tieren reicht es, angepasst zu sein. Eine Eigenschaft zu entwickeln oder zu verändern, um sich anzupassen. Und dann der Erfolgreichste oder der Stärkste zu sein und die Anpassung weiterzugeben. Schön und gut. Aber bei uns ist das anders.«
Benjamin setzte sich anders hin. »Menschen haben viele soziale Schichten. Du kannst von Brad Pitt und Angelina Jolie träumen, aber für einen Bauarbeiter ist es wichtiger, dass er ein Auto und ein kleines Häuschen hat und seinen Job behält, um eine adäquate Frau zu finden, der das genügt und die das gut findet. Und auch in anderen Schichten gilt das. Du musst nicht groß und stark, wenn du Bill Gates bist. Geld und Macht sind attraktiv genug. Sportwagen sind sexy. Geld ist sexy. Erste Klasse Fliegen ist sexy. Angesagte Klamotten. Kenntnisse über die neuste Musik. Den heißesten Schuppen. Die modernste Sport-Uhr und das geilste Handy. Wissen. Tausende von Nischen, Tausende von Talenten. Tausend Wege, einen Partner zu finden, auch wenn du an die besten vielleicht niemals rankommst. Irgendein Talent hat jeder, um zu seinem Topf einen Deckel zu finden. Nur stark und klug war gestern.«
Benjamin seufzte tief. »Die klassischen Mechanismen von Darwin sind außer Kraft gesetzt. Na ja, mit Ausnahmen vielleicht.«
Charlotte sah ihn fragend an.
»Na ja, die schöne Frau, die mit dem reichen und kahlen Architekten verheiratet ist, aber mit dem attraktiven Gärtner vögelt. Die Prinzessin, die den Reitlehrer ihrem Mann Charles vorzieht. Der Mann für die Absicherung, aber der Kerl fürs Bett.«
»Also funktioniert Darwin immer noch«, schloss Charlotte daraus.
»Ja, natürlich«, sagte Benjamin. »Aber das ist gar nicht mein Punkt. Dieser gewaltige Aufwand, den wir treiben müssen, um einen oder viele gute Partner zu finden. Geile Autos, die unser Ego transportieren. Autobahnen, die dann diese Autos transportieren. Das gute Haus mit Garten, das uns attraktiver macht, und die riesigen Wohnsiedlungen, die unsere Landschaften zerstören.« Benjamin ließ den Kopf hängen, sah aber sofort wieder auf und Charlotte ins Gesicht.
»Der Wille zu beherrschen, uns alles andere untertan zu machen, jeden Tag Fleisch auf dem Teller zu haben. Und dafür den Verbrauch von Land, Energie, Wasser, Futtermitteln statt Gemüse auf solche Höhen zu treiben, dass wir dafür den ganzen Planeten dafür umgraben müssen. Wir ruinieren die Erde für Habgier, Sex und Geltungsdrang. Ich könnte da noch viel, viel mehr aufzählen. Und das alles auch wegen unserem affigen Imponiergehabe und unserer steinzeitlichen Gene, die dem heutigen Leben nicht mehr angemessen sind.«
Benjamin lehnte sich zurück und atmete erschöpft aus.
Charlotte war kaum beeindruckt. »Aber das ist doch nicht nur das Bestreben, gute Partner zu finden und seine Gene zu verbreiten. Ganz so simpel sind wir nicht gestrickt, Zen. Das ist auch Bequemlichkeit, der Wunsch nach einem angenehmen Leben. Der Wohlfühlfaktor.« Sie beugte sich vor.
»Und mit all unseren neuen Technologien beanspruchen wir doch immer weniger an Ressourcen. Es wird doch auch vieles besser, kleiner und effektiver. Es gibt doch auch positive Entwicklungen«, warf sie ein.
»Genau damit beruhigen wir uns immer«, fand Benjamin. »Aber wir schränken uns nicht ein. Wir könnten bequem per Skype oder WhatsApp mit Leuten rund um die Welt Konferenzen abhalten. Aber trotzdem nimmt zum Beispiel der Flugverkehr nicht ab, sondern zu. Wir nutzen einfach alles, auf das wir zugreifen können, ganz einfach aus einem Grund: Weil wir es können. Wir machen alles, was technisch möglich ist. Alles. Bis zum Anschlag. Because we can.«
Er dachte an sein Fahrrad. »Du könntest heute Elektroauto fahren. Du könntest bald ein autonomes Auto herbestellen und auf ein eigenes ganz verzichten. Das alles wird entwickelt. Aber was tut sich? Die Autoproduktion, und zwar von konventionellen Fahrzeugen,