Er wunderte sich über sich selbst. Im Café hatte er fast zwanghaft auf ihre Oberweite geglotzt; hier sah er nur ihr Gesicht. Gab es eine Art Tabu, wenn man bei jemandem zu Gast war? War das ein konditionierter Akt der Höflichkeit? Oder machte das der persönliche Kontakt? Respekt vor jemandem, den man aus anderen Gründen schätzte? Überstimmte das die laut schreienden Hormone?
Das kritische Absenken der Augenbrauen war ihm dabei nicht entgangen.
»Ich glaube, ich weiß, was du denkst«, sagte er schließlich. »Solche aufwendigen Forschungen müssen ja irgendwie finanziert werden. Ohne Geld keine Forschung, heutzutage. Und wen interessieren schon solche extremen Lebewesen? Das öffnet Tür und Tor zu ungeahnten Möglichkeiten. Mineralienabbau, Raumfahrt, hitzeresistente Getreidearten, damit wir die Erde noch effektiver plündern können. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Vor allem, wenn noch Börsen-Fantasien dazu kommen. Dass man damit Geld machen kann. Extrem viel Geld.«
Dass ich damit Profitgier und Machtinteressen diene, dachte er. Hoffentlich glaubt sie das nicht. Denn das wäre das Letzte, was ich will.
Benjamin trank einen Schluck gegen seinen trockenen Mund.
»Das hat mich aber nie interessiert, im Gegenteil. Ich erforsche die nicht des Geldes wegen. Ich finde Biologie faszinierend. Das Leben. Diese unendliche Vielfalt und den Erfindungsreichtum des Lebens. Was die Natur alles zustande bringt. Diese Eroberung aller Lebensräume, mit den Extremophilen als den Pionieren des Lebens.«
Benjamin kam sich etwas blöd vor. Das klang laut ausgesprochen ganz anders als leise im Kopf.
Sie trank ihren Tee und sagte immer noch nichts. Musterte ihn nur.
»Und du?« Benjamin fühlte, als ob er in einer zu großen Haut steckte.
Ihr Mund öffnete sich leicht, ein Streifen weißer Zähne zwischen zwei vollen Lippen. An den Mundwinkeln bildete sich beim Lächeln zwei kleine, dreieckige Lachfalten, die sie einrahmten wie spitze Klammern.
Ein lächelndes < = >.
Süß. Benjamin war dieser ebenmäßige und volle Mund vorher nicht aufgefallen.
»Ich habe gerade bemerkt, dass ich Dir gern zuhöre, Zen.« Sie stand auf und ging in Richtung Küche. »Wir haben noch knapp eine Stunde, dann muss ich weg. Jetzt wird gebügelt. Aber ich würde mich freuen, wenn wir morgen weiterreden könnten.« Sie blieb im Rahmen der Küchentür stehen und blickte über die Schulter zurück, wobei ihre lose Strähne aus dem Dutt zitternd herausragte wie eine Feder am Speer eines Eingeborenen, der damit gerade seine Beute erlegt hatte. »Ja? Würdest du das auch gut finden, Zen?«
Benjamin nickte. Das fühlte sich gut an, so gefragt zu werden. Es war, als ob die Luft, die ihn einhüllte, ein paar Grad wärmer geworden wäre. Charlotte nickte auch, während sie den Kopf in Richtung Küche wandte. Benjamin hörte sie eine Schranktür öffnen. Er seufzte, trank seinen Tee aus und stand auf.
Die Kunst des Bügelns
Charlotte kam mit einem stark gebrauchten Bügelbrett mit blauen Mustern und einem Dampfbügeleisen zurück. Sie stellte das Brett neben der Küchentür auf und hielt ihm die Schnur des Eisens hin, mit einem hilflosen Lächeln auf den vollen Lippen. Benjamin fummelte den Stecker in eine Steckdose unter einer Anrichte, während Charlotte einen Korb mit Wäsche aus der Küche holte.
»Hier.« Sie warf ihm eine noch leicht feuchte Bluse zu. »Dann fang mal an.«
Die Biologin setzte sich an den Tisch und goss sich den letzten Rest Tee in die Tasse. Sie schlug die langen Beine übereinander und lehnte sich beobachtend zurück. Benjamin fielen ihre nackten Füße auf, und die Sauberkeit auf dem Fußboden. Und er lief hier in seinen Straßenschuhen rum. Peinlich. Schon wieder. Er zog seine Treter aus und brachte sie zur Tür und stellte sie auf einem Regal ab, das ihm vorhin entgangen war.
Was hat das jetzt mit Zen zu tun, fragte er sich, als er zurückkam. Brauchte sie nur einen Idioten für ihre Wäsche?
Was sollte er jetzt machen? Sie sagte ihm nichts und sah nur erwartungsvoll und ein wenig belustigt zu, wie er da mit der feuchten Bluse und einem Bügeleisen in seinen Händen in ganzer Länge vor dem für ihn viel zu niedrigen Bügeltisch mit den blauen Karos stand.
Er hob den Tisch an und hakte den Ständer am letzten Rastpunkt ein. Jetzt hatte er die richtige Höhe.
Was nun? Am Bügeleisen fand er einen Regler, auf dem Temperaturen und Stoffarten standen. Aha. Er suchte nach einer Waschanleitung in der Bluse und fand sie unten an einer Naht.
Die Bluse war ein Gemisch aus Seide und Baumwolle. Seide hatte die geringere Temperatur. Er stellte den Regler auf Seide, die höhere Temperatur für Baumwolle hätte der Seide vermutlich geschadet. Logisch. Er schaute hinüber zu Charlotte. Die schaute ausdruckslos zu, vielleicht ein wenig spöttisch.
Weiter.
Benjamin kam sich blöd vor. Er tippte kurz mit einem angefeuchteten Finger auf die Sohle des Eisens, er hatte das als Kind bei seiner Mutter gesehen. Das Eisen wurde schnell warm, und eine Kontrollleuchte ging aus. Temperatur erreicht? Musste wohl.
Benjamin sah sich das Bügeleisen genauer an. Es hatte noch ein paar Knöpfe, daneben Symbole für Wasser und Dampf, wenn er das richtig las. Dann war das ein Dampfbügeleisen. Er schüttelte das Eisen, da schwappte nichts. Für voll war es zu leicht.
»Hast du Wasser?«, fragte er Charlotte. Sie ging wortlos zur Spüle, öffnete eine Tür darunter und reichte ihm eine blaue Plastikflasche. »Destilliertes Wasser«, sagte sie. »Sonst verkalken die Düsen.«
»Ich dachte, Göttingen hätte so weiches Wasser«, entgegnete Benjamin. Er fragte sich, wozu er das hier machte, und kam sich entsetzlich blöd vor.
»Schon. Aber ganz weich eben doch nicht. Und ich möchte das Eisen noch eine Weile behalten. Hier.«
»Danke.« Benjamin fand den Einfüllstutzen, schraubte den Verschluss von der Flasche und goss vorsichtig Wasser ein. Bisher hatte er wohl alles richtiggemacht.
Charlotte hatte sich wieder hingesetzt, die Beine übereinandergeschlagen, und nippte am Tee. Er mochte gar nicht zu ihr hinsehen, so, wie er sich hier gerade blamierte.
Benjamin stellte das Eisen hochkant auf die Ablage des Brettes und nahm die Bluse in die Hand. Es war eine von Charlotte, wie er an den langen Abnähern unschwer erkennen konnte. Die sollte er nun also bügeln und dabei womöglich ein Zen-Erlebnis haben. Irgendwie wünschte er sich, er hätte lieber einen VHS-Kurs für Bogenschießen belegt. Bügeln, ausgerechnet Bügeln! Bescheuert. Alles sträubte sich in ihm. Hätte er ein Fell besessen, würden sich jetzt seine Rückenhaare aufrichten.
Zurück konnte er auch schlecht. Er musste hier durch.
»Vorbereitung ist die halbe Arbeit«, sagte er vage in ihre Richtung, während er sich überlegte, wie er am besten anfangen sollte. Das Bügeleisen klickte.
Der Rücken war die größte ebene Fläche, und Benjamin breitete die halbfeuchte und knittrige Bluse so gut es ging auf dem Bügelbrett aus, beugte sich darüber, das Eisen in der Hand, und setzte es zaghaft an. Während er es vorsichtig nach vorn schob und sich der Stoff unter dem Eisen entspannte und glättete, wie er zufrieden feststellte, schob sich der Stoff an der Spitze des Eisens wie Wellen vor einem Schiff zusammen.
Sobald er das Eisen weiterbewegte, verdichtete es die Wellen zu Falten. So ging das schon mal nicht.
Er legte die Bluse um und begann neben dem handtellergroßen glatten Stück erneut. Das ging ein kleines Stück gut, dann zog sich der Stoff wieder unter das Eisen, einschließlich des schon gebügelten Eckchens. Da war Spannung im Stoff, überall zog und zerrte es, der Stoff gehorchte ihm nicht.
Er musste ihn so auf das Brett legen, dass keine Zugspannungen im Stoff entstanden. Nur wie?
Er schaute sich die Bluse genau an. Er hatte von der Innenseite her gebügelt. Kein Wunder,