Er senkte den Blick, und sofort sprang ihm ihr Dekolleté ins Auge, nun aus nächster Nähe. Schnell blickte er wieder zur Seite, ins Zimmer hinein. Gott, er konnte doch nicht schon wieder so auf ihre Brüste glotzen, und dann noch bei ihr zu Haus. Aber dass sich eine makellose und glatte Haut über diese Prachtstücke spannte, war ihm nicht entgangen. Sein Magen zog sich zu einer geballten Faust zusammen, Benjamin spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss.
Charlotte tat, als ob sie nichts davon bemerkt hätte. Benjamin spürte sich schon wieder erröten. Das zweite Mal in mindestens genau so vielen Jahren.
»Komm erst mal rein und setz dich«, sagte sie und zeigte kurz mit ihrer gespreizten rechten Hand zu einem großen runden Tisch. »Möchtest du einen Tee?«
»Gerne.« Benjamin ging auf den Tisch zu, mechanisch und roboterhaft, nach irgendeinem Halt suchend. Auf dem Weg durchs große und aufgeräumte Zimmer fiel sein Blick auf eine blaue, mit einem verblichenen Palästinensertuch ausgelegte Holzkiste, in der sich etwas regte. Zwei junge Katzen mit kurzem, bläulichen Fell.
Er änderte seine Richtung, jetzt sicherer auftretend, ein Ziel vor den Augen.
»Ist das die Muschi, die ein neues Herrchen sucht?«, fragte er, während er sich auf ein Knie niederließ. Er nahm eines der Kätzchen in die Hand, ein kleines Fellbündel, dessen Pelz im Licht graublau irisierte. Das Kätzchen schlief und streckte sich leicht in seiner Hand, vielleicht drei Wochen alt, dachte Benjamin. Er legte es wieder in die Kiste zurück, ging an den Tisch und setzte sich, nun viel sicherer und etwas weniger von ihrer überwältigenden Weiblichkeit beunruhigt.
Sie hatte also wirklich Kätzchen. Irgendwie erleichterte ihn das. Er atmete tief aus. Kein Seufzer, aber nahe dran. Erleichtert ließ er die angespannten Schultern sacken.
Charlotte kam aus der Küche zurück und stellte zwei rote Teetassen auf den Tisch. »Lass die mal in Ruhe. Und darüber möchte ich jetzt auch nicht sprechen«, sagte sie, während sie die Kiste mit den Kätzchen in ein anderes Zimmer stellte, dessen Tür sie auf dem Rückweg hinter sich zuzog.
»Du bist schließlich wegen des Bügelkurses hier, oder?«
Benjamin sah ihr einige Augenblicke lang nach, während sie in Richtung Küche zurückging. Sie hatte einen elegant schwingenden Gang, bei dem sie es fertigbrachte, ihren Busen kaum in Bewegung zu versetzen. »Na ja, klar, eigentlich schon«, sagte er, aber es klang eher wie eine Frage.
»Wenn es denn wirklich so etwas Mysteriöses hat wie in deiner Anzeige. Erzähl mir mal, was hat denn Bügeln mit Zen zu tun? Das war der Haken, mit dem du mein Interesse geangelt hast, Charlotte.«
Sie kam aus der Küche zurück und balancierte mit der einen Hand ein Tablett mit einer Kanne Tee, einem Stövchen, einem Zuckertopf und Löffeln, während sie mit der anderen die Küchentür schloss. Benjamin hatte hingesehen und insgeheim gehofft, dass sie die Tür mit einem Schwung ihres Pos schließen würde.
»Ich war mal ein paar Jahre in Japan, aber dazu später. Zieh bitte schon mal dein Hemd aus.«
»Mein HEMD?«, wunderte sich Benjamin.
»Ich tu das kurz in die Maschine und dann in den Trockner. Es muss sowieso gebügelt werden. Gewaschen wohl auch.« Sie zeigte auf einen Kaffeefleck unter der Brusttasche, der Benjamin noch gar nicht aufgefallen war. »Aber dann müsste ich dir was anderes geben.« Sie zupft sich mit Daumen und Zeigefinger am Rand der Unterlippe.
»Oder nee. Lass es an, ich habe selbst noch frisch gewaschene Wäsche da.« Sie grinste fröhlich. »Kannst dein Hemd noch eine Weile auftragen.« Benjamin knöpfte den zweiten Knopf von oben, den er mechanisch geöffnet hatte, wieder zu.
»Zucker?« Sie hob den Zuckertopf in seine Richtung. Benjamin konnte kleine braune Kandiskristalle erkennen und bediente sich. Charlotte goss ihm hellroten Tee ein.
»Charlotte«, Benjamin ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Onomastik beherrschte er; die Namensforschung war ein sicheres Terrain, das er betreten konnte. Ein Gebiet, in dem er nicht so staksig und unbeholfen umherging wie in ihrer Wohnung, einer fremden Wohnhöhle, angenehm duftend, mit anderen Farben und bunterem Licht, in der er sich trotzdem noch fremd fühlte, bedroht, unsicher.
»Die weibliche Form von Karl, abgeleitet von Karl dem Großen, im Diminutiv«, gab er sein Wissen preis. »Die Anmutige, die Tüchtige. Die Freie. Schöner Name.« Er griff nach seiner Teetasse, sah hinein und trank.
»Und Zeno, das Gottesgeschenk. Habe ich gerade nachgeschaut.« Charlotte grinste ihm direkt ins Gesicht. »Benjamin, der jüngste Sohn Jakobs. War dein Vater Pfarrer, oder was?«
Wow, dachte Benjamin. Sie war auch neugierig auf ihn gewesen. »Nee, Lehrer. Altgriechisch, am Max-Planck-Gymnasium. Aber der jüngste in der Familie bin ich nicht, ich habe eine jüngere Schwester und einen viel älteren Bruder. Und der heißt Alexander Anaxos.«
Benjamin musste selbst lachen. »Vielleicht, weil er so immer ganz vorn im Alphabet auftaucht und als Erster in der Klasse gefragt wird. Alexander Anaxos Abendschein. Mit so einem Namen musst du immer vorbereitet sein und alle Fragen beantworten können.«
»Abendschein ist ein alter Hugenottenname«, wusste Charlotte. »Habe ich auch gleich nachgeschlagen. Dann verbindet uns was, Zen. Deine Familie kam mal aus Frankreich, meine ist frankophil.«
Sie hob ihre dünne Tasse auf, ohne den kleinen Finger abzuspreizen. Gute Erziehung, oder war sie einfach so dezent und anmutig, wie ihre Bewegung wirkte, fragte er sich. Sein Magen entknotete sich langsam wieder, und er nahm einen weiteren Schluck vom Tee.
Charlotte erzählte von sich. »Meine Eltern sind aus Landau bei Karlsruhe, das ist ja schon fast in Frankreich. Mein Vater hat ein gutes französisches Lokal in Kassel, seit über vierzig Jahren, da sind wir vor meiner Geburt hingezogen.« Sie stellte ihre Tasse, die sie vor sich gehalten hatte, wieder ab.
»Das sollte ich später übernehmen, aber ich konnte gerade noch entkommen«, lachte sie. »Jetzt hat er jemanden aus Narbonne dafür eingestellt. Aber versteh mich nicht falsch. Ich bin gerne da, und koche am Wochenende auch mal. Du kannst uns zwar aus Frankreich rauskriegen, aber Frankreich nicht aus uns. Essen tue ich für mein Leben gern. Sieht man ja leider.«
Sie lächelte ihn entschuldigend an. Auf ihren Wangen zeigten sich zwei Grübchen; das linke lag etwas tiefer als das rechte, was sie noch interessanter aussehen ließ.
Benjamin hatte ihr gar nicht richtig zugehört. Ihm war aufgefallen, wie sie von innen heraus strahlte, wie ihre Augen leuchteten. Seine Antwort ließ ein wenig auf sich warten.
»Und was machst du jetzt hier in Göttingen, Charlotte?«, fragte er und griff erneut zu seinem Tee.
Ihr war sein kleiner Aussetzer nicht aufgefallen. »Ich bin am Max-Planck-Institut, als Postdoc. Biophysikalische Chemie.«
»Ach nee.« Jetzt hatte sie Benjamins volle Aufmerksamkeit. »Ich bin auch Biologe, aber in der Goldschmidtstrasse. Mikrobiologie.«
Charlotte lehnte sich erstaunt zurück, und Benjamin nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie ihre Bluse dabei auf und ab wogte.
»Und was machst du da genau?« Sie rührte ihren Tee um und strahlte Benjamin so freundlich und unbefangen an, als ob sie ihn schon lange kennte. Sie hatten etwas Gemeinsames entdeckt, eine Verbindung, die das Eis zwischen ihnen zerbröselte und schmolz.
»Tja. Was mache ich da.« Benjamin griff zum Zuckertopf und bugsierte drei Bröckchen Kandis mit seinem Löffel in seine Tasse. Charlotte sah ihm aufmerksam zu.
»Hast Du noch Tee?« Sie schenkte ihm nach und legte den Kopf schief.
Benjamin rührte gedankenverloren um. »Eigentlich bin ich Bakteriologe. Für Extremophile. Du weißt schon, die Arten, die in kochendem Wasser, Schwefelquellen, Vulkanen, Salzsäure oder anderen völlig lebensfeindlichen Umgebungen überleben. Im Weltraum. Faszinierend, weißt du? Wozu das Leben fähig