Kunst-Kurz. Wolf Schreiber (Hrsg.). Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf Schreiber (Hrsg.)
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748597193
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Einmal hatte sie Gareth auf eine kleine Party in Islington mitgenommen, und Sarah kam sich sogar einigermaßen geistreich vor, obwohl sie sich fühlte, als müsste sie jede Bemerkung aus einem hunderte Meter tiefen Brunnen hervorholen. Sie brauchte eine Woche, um sich davon zu erholen. Es hätte sie nicht weiter gewundert, ein angegammeltes Kaninchen in ihrer Handtasche vorzufinden. Aber Kaninchen können auch Wegweiser sein. Es gibt fraglos Situationen, in denen nur noch ein Tier weiterhelfen kann, darum ist ihnen in dieser Geschichte ein Platz zugewiesen worden.

      Die Exkursionen in das, was sie früher arglos ein Gemälde genannt hatte, als Obsession zu bezeichnen, hätte noch zuviel Platz für eine Distanziertheit gelassen. Gerade betrachtete sie die, wie es schien, einzige menschliche Gestalt in der ganzen Veranstaltung: einen Sikh mit, wie auch anders, verschränkten Armen und kunstvoll gestaltetem Turban, der vor der Mauer, die das gesamte Bild durchzog, postiert war wie ein Türsteher; allerdings konnte Sarah beim besten Willen keine Tür erkennen, sie hatte es aus quasi allen Perspektiven ausprobiert. Fast war sie froh: der Gedanke an eine Tür in der Mauer wäre zuviel für sie gewesen, bei all der Permissivität, die auch ohne Tür schon zu Tage trat. Jedes Mal, wenn ihr Blick den des Sikh traf, wendete sie sich ab. Ein Fleck auf dem Mauerwerk, von Glyzinien umrahmt, den sie früher übersehen hatte und der auf den ersten Blick als abstrakte, der Gesamtkomposition geschuldete Farbsprengsel durchgehen konnte, stellte sich als psychedelisches Plakat heraus, mit menschlichen Köpfen und angeberisch verschwurbelten Schriftzügen, eine Werbung eventuell für ein Event jenseits der Mauer? Und der gestrenge Sikh würde tatsächlich den Eingang kontrollieren? Würde Sarah vor seinen Augen Gnade finden?

      Irgendwann fiel Sarah auf, dass sie sich noch nie gefragt hatte, wer der Urheber war. Immerhin handelte es sich um ein Original eines zwar deutlich epigonenhaften, aber doch handwerklich und gestalterisch begabten Künstlers. An manchen Stellen quoll einem die Farbe förmlich entgegen. Auch der versierte Nigel, der an mittelgroßen Auktionen mitarbeitete und sich eine lustlose Expertise abgerungen hatte (er hatte es, strangely enough, ein »Seestück« genannt, Sarah hatte da nicht nachgehakt), wollte diesbezüglich nicht spekulieren. Rechts unten, wo man die Signatur vermuten durfte, war zunächst nichts zu sehen; eine genauere Untersuchung brachte ein paar krümelartige Zeichen hervor, gewissermaßen im Unterholz verborgen, irgendwas zwischen Runen und Termiten. Reine Kaffeesatzleserei, daraus Initialen zu basteln. EAP? HPL? GKC? HGW? RLS? Nein, es waren nur zwei Zeichen... Das erste, da war Sarah sich jetzt sicher, konnte nur ein K sein, das zweite... Moment... es wäre zu grotesk... Fast schien es, als wäre das Zeichen lebendig geworden und würde sich heimtückisch zu dem Buchstaben formen, den Sarah am wenigsten sehen wollte, nicht sehen wollte, einfach um einen fernen absurden Verdacht zu zerstreuen, der aber gewissermaßen durch den Akt des Zerstreuenwollens erst entstanden war. Kein S. Kein S. Kein S.

      Aber das Seltsamste kam ja noch. So wie in der Kryptozoologie nach Jahrhunderten der Klassifizierungsarbeit immer noch wie aus dem Nichts neue Walarten entdeckt werden, hatte sie bei ihrem monatelangen Starren das Offensichtliche anscheinend übersehen. Über den Elefanten im Raum unterhält man sich ja auch nicht. Für Sarah war es zu groß. Es gibt Elefanten, die durch die Träume unserer Mütter trampeln. Unsere Mütter waren vielleicht noch stark genug, wir sind es nicht mehr.

      Als man ihren leblosen Körper fand, hatte sie das Lächeln der Portalsseligkeit auf den Lippen und das Dunkel des Turmalin in ihren Augenhöhlen. Die Krähen waren inzwischen wieder zurückgeflogen. Der ältere Officer erzählte was von einer leicht defekten Gasleitung und schleichender Vergiftung und so, und der jüngere meinte, na gut, aber das hätte sie doch riechen müssen, und der ältere meinte, na gut, Pollensaison, Nase zu, was weiß denn ich, und der jüngere, aber die Augen, mein Gott, was ist denn mit den Augen, und der ältere, hast du überhaupt mitgekriegt, das ist nicht die Dame, die hier gemeldet ist. Das ist nicht Sarah Lowery. Laut mitgeführtem Bibliotheksausweis handelt es sich um eine gewisse Kendra Smith.

      Der jüngere Officer kniete an Kendras Seite nieder, und sein Blick fiel auf eine Tüte angebrochene Salzmandeln, die ihr wohl aus der Hand gefallen waren. Ohne groß nachzudenken, hob er sie auf und wog sie in seiner Hand, als könnte ihr Gewicht irgendwas erklären.

      Vladimir Nabokov, der Schmetterlingsliebhaber, hat wohl mal eine Art beschrieben, deren Strategie gegen ihre Fressfeinde der spontane Farbwechsel war. Auch nach dem Verschwinden der Feinde vollzog der Schmetterling diese Farbwechsel noch, aus »reiner Lust an der Transformation«, wie der zum Ästhetizismus neigende Russe notiert. Vielleicht war dieser Fall ja ähnlich gelagert. Aber wer waren Kendras Fressfeinde gewesen?

      Höhlen-Kritzelei von Nobi Umsonst

CC.62

      Anna Cijevschi

      − Leinwand

      Wir ziehen uns aus. Ich sehe deinen nackten Körper an. Die muskulösen Waden, die festen Pobacken, die Kurve deiner Wirbelsäule. Deine Füße sind sehnig und schlank, die ersten drei Zehen fast gleich lang.

      Das mache ich immer so. Ich möchte nicht, dass mein Model sich unwohl fühlt, also ziehe ich mich auch aus. Ich mag es, wenn nach dem Malen die Farbe an meinen Unterarmen klebt, wenn ich noch Tage später dunkelgrüne Streifen an meinen Oberschenkeln und Leim vom Grundieren unter meinen Fingernägeln finde. Du siehst unentschlossen aus. »So ist es okay, ja. Du kannst noch das rechte Bein etwas anwinkeln.« Du verkrampfst dich. »Aber das muss nicht sein, stell dich ruhig hin, wie es für dich bequem ist. Warte, ich hole uns zwei Gläser Wasser.« Ich sehe noch aus dem Augenwinkel, wie du dich zum Fenster drehst und die Schultern kreisen lässt.

      Als ich zurückkomme, hast du dich auf die Fensterbank gesetzt. Ich stelle eines der Gläser neben dich. Mir gefällt das Bild. Deine Füße sind überkreuzt, mit den Händen stützt du dich an der Kante der Fensterbank ab, du bist nach vorne gebeugt. Ohne ein Wort zu sagen, trete ich vor die Staffelei. Du gibst dich desinteressiert, lässt den Blick durch den Raum wandern. Ich setze den Pinsel an, skizziere deine Gestalt. Es dauert eine Weile, bis ich den richtigen Winkel für deine Arme gefunden habe, denn du hältst nicht still. Ich mische Ocker, Weiß und Rosa zu einem hellen Grundton zusammen, füge mehr Weiß hinzu, für die Stellen, an denen das Licht an der Silhouette durch dich hindurchzudringen scheint. Licht und Schatten, darauf kommt es an. Ich wähle einen warmen Orangeton für die Schatten unter deinem Haaransatz, am Hals und in den Armbeugen. Deinen Haaren verleihe ich einen kühleren Ton; ich kann sehen, dass sie einmal hellblond waren und mit der Zeit immer dunkler geworden sind.

      Du gewöhnst dich nur langsam an die Situation. Nach einigen Minuten des wahllosen Herumschauens bleibt dein Blick an mir hängen. Ich spüre, wie du mich anstarrst, während ich dich male. So, als könntest du dir etwas von dem zurückholen, was ich mir von dir nehme. Du siehst fordernd aus, aber ich komme nicht dahinter, was du möchtest. Ich mische dunklere Hauttöne zusammen, für die Stellen, wo dein Bart dichter wächst, und für die im Schatten liegenden Unterschenkel. Deine Beine wirken schlank, aber stark. Ich kann mir vorstellen, dass du dreimal die Woche joggen gehst, vielleicht mit deinem Hund, vielleicht mit Musik.

      Ich kann mich daran erinnern, wie ich Körper als Kind wahrgenommen habe. Sie schienen mir immer viel zu groß für die Menschen, denen sie gehörten. Wenn ich Kleidungsstücke meiner Eltern an der Wäscheleine sah, wirkten sie gigantisch. Ich passte mit meinem ganzen Körper in eines der Hosenbeine und drei Mal in ein weites T-Shirt. Mich ärgerte es, dass die großen Körper die Erwachsenen so ungelenk machten. Sie konnten nicht mit mir unters Bett krabbeln, nicht auf einem Bein um die Wette hüpfen. Mein Körper gefiel mir. Er war klein und flexibel, geeignet zum Verstecken und Kriechen und Klettern. Dann wurde auch mein Körper größer. Ich bekam schlaksige Arme und lange dünne Beine. Meine Bewegungen wurden plump. Die Knochen waren zu schwer geworden, um sie so mühelos tragen zu können wie vorher; die Muskeln kamen nur langsam hinterher.

      Ich verlagere mein Gewicht von einem Bein aufs andere, wasche die Pinsel aus, mische den Farbton neu. Da ist auch Grau in deinen Augen. Dein Blick frisst sich in mich hinein. Ich frage mich, ob das nicht meine Aufgabe ist, dich anzuschauen und einzufangen. Ich male deine kurz geschnittenen Fingernägel, die fast so lang wie breit sind. Dann die zarten Ohrläppchen, die feine