Frank sah den Mann perplex an. Er trug eine armeeartige Jacke, die exakte Bezeichnung lautete wohl Camouflage-Armeeparka, soweit er sich erinnerte.
„Nochmals danke für Ihre Hilfe“, rief er.
„Nicht dafür.“ Der Mann wandte sich um und ging zum Ausgang.
Als Frank vom Parkdeck fuhr, saß sein Retter jetzt mit Helm auf einer schwarzen Harley Davidson, hob zum Gruß den Arm und blubberte an ihm vorbei. Indessen er seinen Wagen durch die Aschaffenburger Straße lenkte, ließ er den Zwischenfall noch einmal revue passieren und kam zu dem Schluss: Es konnten nur Till und Marco gewesen sein, die ihn überfallen hatten. Den Angaben des Bikers nach stimmten Größe und Alter. Aber weshalb? Nur, weil ich mich gegen sie verteidigt habe? Bei solch einer heftigen Reaktion dürfte nicht nur eine Menge Frust dahinterstecken. Da war noch mehr, das hatte er nicht selten im Jugendzentrum erlebt. Morgen, wenn er Pauline und Julian träfe, würde er den beiden vorsichtig auf den Zahn fühlen.
Mittlerweile war er an einer Parkfläche unweit seiner Bleibe angekommen. Er holte seinen Rucksack aus dem Kofferraum und ging zu dem Haus, in dem er seine letzten Monate verbringen durfte. Die Fenster im Erdgeschoss waren erhellt und das weißblau flackernde Licht verriet, dass der Fernseher lief. Kaum, dass er die Zugangstür aufgeschlossen hatte, wurde er unüberhörbar von der Frage überfallen: Wo waren Sie gestern Abend zwischen 8 und 10 Uhr? Er war fast drauf und dran zu antworten, bis ihm bewusst wurde, dass es sich um eine Kriminalserie handelte, die er selbst gerne am Freitagabend ansah.
So leise wie möglich stieg er die Stufen in den ersten Stock hoch. Seinem Rucksack entnahm er nur das Notwendigste wie einen Schlafanzug, Zahnbürste und Zahnpasta, ein Handtuch und ein Stück Seife. Dann ging er ins Bad. Dem müden Gesicht im Spiegel schenkte er keine weitere Beachtung. Drei Minuten später lag er im Bett und war kurz darauf schon eingeschlafen.
Samstag – 07. September 2019 / 09:40 Uhr
Regen trommelte an die Fensterscheiben. Frank Lehmann stand auf und sah auf sein Handy, das er am Abend auf den Küchentresen gelegt hatte. Es war zwanzig vor zehn und er verspürte Hunger. Spontan beschloss er, in einem Café ein ausgiebiges Frühstück einzunehmen. Nach einer kurzen Dusche suchte er in seinem Rucksack einen dünnen Pullover. Dabei stießen seine Finger an Franziskas Foto. Für ein paar Momente verlor er sich in den blauen Augen und in dem Gesicht, das er so sehr liebte. Er stellte das Bild auf den Tisch neben dem Bett.
Unmittelbar nachdem er die Tür geöffnet hatte, huschte ein schwarzer Schatten um die Ecke. Gleichzeitig flog ein Zettel hoch, um sofort wieder auf die Fußmatte niederzusinken. Er bückte sich.
Guten Morgen Herr Lehmann.
Wir hoffen, Sie haben gut geschlafen und erwarten Sie in unserer Küche.
Annemarie und Walter Fuchs
Frank war verunsichert. Hatte das jetzt Gutes oder Schlechtes zu bedeuten, dass seine Vermieter mit ihm sprechen wollten? Zaghaft klopfte er und nach dem „Herein“ öffnete er die Tür. Der Duft von Kaffee und frischen Brötchen erfüllte den Raum. Blitzartig sauste ein großer schwarzer Kater an ihm vorbei und mit einem gekonnten Sprung auf den Schoss des Hausherrn.
„Da bist du ja.“ Herr Fuchs blickte von seiner Zeitung auf. „Wo hast du dich die ganze Nacht herumgetrieben?“
„Was? Wie? Ich war ...“
Frau Fuchs lachte. „Guten Morgen Herr Lehmann. Mein Mann meint unseren Kater Lenin. Sie haben also unsere Nachricht gefunden. Wir dachten, dass Sie gestern bestimmt keine Zeit mehr hatten, etwas einzukaufen. Deshalb möchten wir Sie zum Frühstück einladen.“ Sie deutete auf den leeren Platz am Tisch, auf dem ein unberührtes Gedeck stand.
„Das Frühstück berechnen wir Ihnen natürlich extra“, ergänzte Herr Fuchs mit ernster Miene.
„Walter! Ich bitte dich. Was soll Herr Lehmann nur von uns denken.“
Wieder an Frank gerichtet sagte sie: „An den trockenen Humor meines Mannes gewöhnen Sie sich schon noch. Jetzt greifen Sie mal tüchtig zu. Sie sehen aus, als ob sie es vertragen könnten.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Danke. Ich hatte wirklich noch keine Zeit.“
Derweil kraulte der Hausherr den Stubentiger hinter den Ohren, der seinen Kopf genüsslich hin und her bewegte. Jetzt erst bemerkte Frank, dass der ein schwarzes Halsband trug, an dem ein rubinroter Stein aufblitzte. Ungewöhnlich für einen Kater, dachte er.
Er hatte es nicht so mit Katzen und setzte sich vorsichtig auf den angebotenen Stuhl. Es folgten zwei Sekunden gegenseitiger Taxierung. Dann beschloss Lenin, dass er dem Fremden genug Respekt eingeflößt hatte, und schloss die Augen. Frank meinte ein Grinsen im Gesicht des Stubentigers zu erkennen.
Frau Fuchs goss Kaffee in die Tasse. „Sie trinken doch Kaffee – oder möchten Sie lieber Tee?“
„Nein, nein, bitte keine Umstände. Kaffee ist in Ordnung.“
Die Entscheidung, sich eine Wohnung zu mieten, anstatt eines Hotelzimmers, war wohl die Richtige. Er war für sich und hatte dennoch ein klein bisschen Familienanschluss. Vorausgesetzt er kam mit Lenin klar.
Nach dem reichhaltigen Frühstück schlenderte Frank zum Wochenmarkt, der, wie Frau Fuchs ihm erzählt hatte, immer Samstags und Mittwochs stattfand. Mittlerweile schielte die Sonne zwischen den Wolken hervor und es hatte aufgehört zu regnen, und auf dem Platz vor dem Rathaus war schon eine Menge los. Frank bummelte durch die Reihen der Stände und besah sich das Angebot. Als er sich ruckartig umdrehte, stieß er beinahe mit einer Frau zusammen. Er entschuldigte sich und ging weiter, blieb dann aber stehen und schaute ihr nach. Auch sie drehte sich um. Für einen kurzen Moment sahen sie sich an. Konnte es sein? Nein. Das wäre schon mehr als ein Zufall. Und dennoch ... die Augen ... der Gesichtsausdruck und die Bewegungen …?
Frank rief sich ihr Aussehen ins Gedächtnis und die längst verschwommenen Erinnerungen wurden immer deutlicher. Er reckte den Kopf, suchte den Platz ab und sah die Frau über die Straße rennen. Einen Moment dachte er darüber nach, ihr zu folgen, verwarf aber den Gedanken schnell wieder. Was hätte er sagen sollen? Weshalb sollte er überhaupt mit ihr sprechen? Sie hatte sein ganzes Leben, seine Ehe, seine Familie zerstört. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis sie schmerzten. Die Zwillinge Pauline und Julian kamen ihm in den Sinn. Hatte er das Recht zu erzählen, was damals vorgefallen war? Nein, entschied er. Das sollte Lea selbst übernehmen, wenn sie es für richtig hielt.
„Für die kommende Woche bin ich gut versorgt“, murmelte er vor sich hin und stieg die Stufen zu seiner Bleibe hinauf. Kaum hatte er die Tür geöffnet, saß Lenin auf der Fußmatte, schaute interessiert, kam aber nicht in die Wohnung. Sekunden später war er verschwunden.
Frank legte den Schweinebraten, den er für heute Abend zubereiten wollte, Wurst und Käse in den Kühlschrank und bestückte eine Porzellanschale mit frischem Obst. Er öffnete das Fenster, das zum Hinterhof ging, um die Mittagssonne hereinzulassen, und setzte sich, mit zwei Fischbrötchen und einer Flasche Wasser auf die Couch vor dem Fernseher. Der Bildschirm war zwar wesentlich kleiner als der zu Hause, aber das war egal und Vergangenheit. Tot und begraben wie auch er bald. Gleichgültig zappte er durch die Programme. Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn auf.
„Entschuldigen Sie, Herr Lehmann“, sagte Herr Fuchs. „Ich wollte nur fragen, ob unser Kater bei Ihnen ist. Normalerweise liegt er um diese Zeit auf seinem Sessel im Wohnzimmer. Er hat so seine Gewohnheiten. Und jetzt finden wir ihn nicht.“
„Nein. Nicht, dass ich wüsste.“ Mit einer halben Drehung in den Raum schaute Frank sich um und stutzte. Lenin lag unter dem Tisch. Neben ihm zwei Hälften eines Brötchens und Zwiebelringe. Mit den Pfoten putzte er soeben genüsslich über sein Maul. „Doch, er ist hier. Lenin hat den Belag meines zweiten Fischbrötchens verspeist.“
„Oh, das tut mir leid. Lenin! Das