In ihren Gesichtern versuchte er, eine Antwort zu finden. Stattdessen lachte Julian halbherzig: „Unsere Erzeuger müssen es ja heftig getrieben haben, wenn es dich dermaßen aus den Latschen haut.“
Pauline hatte sich, ebenfalls eine Dose Cola in der Hand, rücklings auf einen Stuhl direkt vor Frank gesetzt. Lässig ließ sie ihre Arme über die Stuhllehne hängen und sah ihn erwartungsvoll an – mit diesem Lächeln, das ihn sofort wieder zurückversetzte.
Das Klassenzimmer und Lea, die sich lasziv auf ihn zubewegte – die Knöpfe ihrer Bluse öffnend und mit anzüglichem Gesichtsausdruck. Er meinte, erneut zu spüren wie ihre Hände über seine Brust strichen und er, starr vor Schreck, sich nicht rühren konnte, bis eine andere Schülerin in den Raum stürmte und Lea wie eine Wilde losschrie.
„Los erzähl“, forderte Pauline ihn erneut auf.
„Ja,“ stimmte Julian ein. „Wir wollen alles wissen.“
„Was wollt ihr wissen?“ Till stand plötzlich in der Tür.
„Wer ist der Kerl und was macht er hier?“, kam es von Marco. Er trug eine Plastiktüte in der Hand, aus der unverkennbar der Geruch nach Döner strömte. Unbemerkt von den Zwillingen hatten sie den Raum betreten. Ihre Mienen verrieten: Sie waren von der Anwesenheit des Fremden nicht angetan.
„Er war früher Lehrer, hier in der Schule“, ergriff Julian das Wort. „Er kennt Geschichten von unseren Ellis.“
Till schaute streng in die Runde. „Das ist nicht euer Ernst, oder? Was weiß er sonst noch? Habt ihr schon eine Führung durch den Bau gemacht?“
„Hältst du uns für assi?“, brüllte Pauline ihn an. „Spiel dich mal nicht so auf. Bist nicht der Boss.“
„Ich mach mich dann mal vom Acker.“ Frank erhob sich.
„Du gehst nirgendwohin.“ Till blieb breitbeinig vor der offenen Tür stehen.
„Willst du mich daran hindern?“ Mitleidig schaute er auf den etwa zehn Zentimeter kleineren, aber stämmigen Jungen herab.
„Du schnallst es nicht, oder? Wir sind vier und du bist allein. Ein ehemaliger Lehrer müsste doch rechnen können.“ Marco hatte sich mittlerweile schräg hinter ihm postiert.
Frank drehte sich um und taxierte jeden Einzelnen der Jugendlichen. Von Pauline und Julian schien kein Angriff auf seine Person auszugehen. „Lasst mich einfach gehen. Glaubt mir, ihr würdet es sonst bereuen.“
„Hu. Große Worte von einem alten Mann“, entgegnete Till grinsend, ballte seine Hand und wollte zuschlagen. Doch Frank wich zur Seite und die Faust, die ihn treffen sollte, landete mit voller Wucht in Marcos Gesicht. Der taumelte rückwärts und stützte sich mit einem Arm an der gegenüberliegenden Wand ab. Mit der anderen Hand betastete er seine blutende Nase. In der gleichen Sekunde ergriff Frank Tills Kapuzenkragen, drängte ihn quer durch den Raum und auf die improvisierte Couch. Dass der mit dem Kopf an die Wand schlug, hatte er nicht beabsichtigt.
„Sorry!“ Er dreht sich auf dem Absatz um und verschwand durch die Tür. „Danke für die Cola“, rief er den Zwillingen zu und rannte die Treppen hinab.
„Das wird der Kerl mir büßen“, presste Till mit fast geschlossenen Lippen hervor. Dabei hielt er sich seinen Hinterkopf, auf dem sich spürbar eine Beule bildete.
„Warte!“, rief Julian. Die Zwillinge kamen durch das Treppenhaus gedüst. „Die beiden werden es dir heimzahlen wollen.“
Frank nickte. Er schnallte sich das Akkordeon auf den Rücken. „Danke, für die Info.“
„Du kennst unsere Eltern, stimmt’s?“, fragte Pauline nach.
„Na ja, was heißt kennen? Sind ja doch schon einige Jahre her“, versuchte er um eine Antwort herumzukommen.
„Unsere Mutter ist eigentlich ganz cool aber unser Vater rastet manchmal total aus. Ist ein richtiger Kontrollfreak.“ Julian sah auf seine Armbanduhr. „Wir müssen dann auch, sonst gibt’s wieder Stress.“
Frank atmete hörbar auf. Der Kelch war an ihm vorbeigegangen!
„Wir treffen uns morgen um 14 Uhr an der >Noth Gottes<. Ist da vorne, die kleine Kapelle.“ Pauline zeigte in die Richtung des Friedhofs.
„Komm jetzt“, drängelte Julian und packte seine Schwester am Arm.
Nachdenklich schaute Frank ihnen hinterher. Erneut schlug die Kirchturmuhr, diesmal waren es neun Schläge. Bis morgen hatte er Zeit, sich zu überlegen, was er den beiden sagen wollte.
Freitag / 16:55 Uhr
Zunächst drehten sich die Gespräche um die Beisetzung allgemein und die Vielzahl der Menschen, die Sepp auf seinem letzten Weg begleitet hatten. Diejenigen, die jetzt um den verlängerten Esstisch im offenen Wohnbereich saßen, waren die engsten Nachbarn, in Jahrzehnten zu Freunden geworden, sich gegenseitig unterstützend und immer füreinander da. Aber auch neu Hinzugekommene wie die Kriminalkommissare Nicole Wegener und ihr Lebensgefährte Andreas (Andy) Dillinger. Sie hatten Sepp vor fast genau sechs Jahren kennengelernt, bei dem ersten Mordfall in dieser idyllischen Kleinstadt. Ebenso seine Nachbarn Georg Lenz, allseits als Schorsch bekannt und Gundula Krämer, die von der gegenüberliegenden Straßenseite alles und jeden im Blick hatte.
Damals ging Nicole davon aus, die Intervention in ihre Mordermittlung würde eine einmalige Angelegenheit bleiben; ein gewaltiger Irrtum, wie sie einige Monate später feststellen musste. Seitdem hatte sie es immer wieder mit der selbst ernannten Senioren-SoKo zu tun, dessen Führung Helene Wagner, ihre ehemalige Vermieterin – im Laufe der Jahre zur mütterlichen Freundin geworden – und ihr Lebenspartner Herbert Walter übernommen hatten.
Auch wenn sich Nicole Wegener öfters über die Einmischung ärgerte, musste sie doch zugeben, dass die Hinweise der Hobbykriminalisten sie und ihr Team immer vorangebracht hatten. Als Oigeplackte, wie Herbert sie bezeichnete, tendierten ihre Chancen zum Nullpunkt, ging, es darum an alte Geschichten zu geraten und Geheimnisse auszugraben. Also hatte sie letztes Jahr mit den Hobbyermittlern einen Kompromiss geschlossen: Aushorchen und Auskünfte einholen gestattet – selber aktiv werden ausgeschlossen! Nur stellte die seit Anfang 2019 zur Ersten Kriminalhauptkommissarin ernannte Chefin der Abteilung K11 der Offenbacher Kriminalpolizei fest, dass ihre Anweisungen lediglich von den Kollegen und Kolleginnen im Präsidium befolgt wurden.
In augenfällig angeregter Unterhaltung saßen Gundel, Schorsch und Brigitte am anderen Ende der Kaffeetafel. Sie gaben ein skurriles Bild ab. Immer wieder sprang die 1,45 Meter kleine und kugelige Gundel auf, wenn sie Brigitte ansprechen wollte, weil Schorsch zwischen ihnen thronte. Folglich machte sie den Eindruck eines Kindes, das auf seinem Hüpfball auf und nieder hopste.
Die Kommissarin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Die nächsten vier Sitzplätze waren frei, weil Helene derzeit am Kuchenbüffet stand und sich mit Bettina Roth unterhielt und ihr Ehemann Ferdinand zusammen mit Herbert für alkoholischen Nachschub sorgte. Der Einzige, der sich sofort aus dem Staub gemacht hatte kaum, dass die Gäste das Haus betraten, war Leon, Sepps Stiefenkel. Nicole schätzte, dass er am meisten unter dem Verlust litt. Er hatte seinen Grandpa, wie er Sepp in letzter Zeit betitelte, sehr gemocht und ihn oft in den Ferien besucht. Das lag nicht zuletzt daran, dass Sepp, trotz seines fortgeschrittenen Alters, für alles empfänglich war, was Leon interessierte und dementsprechend zu sämtlichen Schandtaten bereit.
Nicole erinnerte sich an die Sache mit der Drohne, die die beiden über die Nachbargrundstücke hatten fliegen lassen und dabei Gundula Krämer beobachten. Die meinte, es handele sich um einen Angriff von Außerirdischen und hatte, außer sich vor Furcht, sie sollte entführt werden, die Polizei informiert. Zum Glück glaubte der Leiter der hiesigen Polizeidienststelle nicht an eine extraterrestrische Bedrohung und verfasste keinen