Einige der alteingesessenen Bewohner von Seligenstadt, diejenigen, die ihn noch als Lehrer in Erinnerung hatten, würden bestimmt sagen, dass das Schicksal ihn eingeholt hatte und er nun seine gerechte Strafe erhalten würde. Wobei er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.
Lea, eine dreizehnjährige Schülerin hatte ihn der sexuellen Belästigung bezichtigt. Dass es genau umgekehrt war, wussten nur Lea und er. Wegen ihrer schlechten Noten speziell in Geschichte bat sie um ein persönliches Gespräch. Selbstverständlich kam er der Bitte nach, schließlich war er doch auch Vertrauenslehrer.
Kaum alleine im Klassenraum, kam sie dicht an ihn heran und knöpfte ihre Bluse auf. Als plötzlich eine andere Schülerin zur Tür hereinkam, schrie Lea und schlug wie eine Wilde auf ihn ein und das Schicksal nahm seinen Lauf. Dass er nichts getan hatte, für das er sich schämen oder gar verantworten müsste, interessierte damals niemanden. Im Nachhinein war ihm jedoch klar: Er hätte es besser wissen müssen. Lea Albrecht hatte es nicht so mit der Moral. Des Öfteren wurde sie mit älteren Schülern im Heizungskeller erwischt, woraufhin ihre Eltern einbestellt worden waren, sich aber nicht nennenswert darüber aufregten. Zum Glück für Frank Lehmann und aufgrund nicht eindeutiger Beweise kam es zu keiner Anklage. Die Angelegenheit wurde intern geregelt und die kurzfristige Suspendierung zurückgenommen. Dennoch stachen die Blicke, denen er in der Stadt ausgesetzt war, wie Nadeln in seinen Rücken.
Letztendlich war es aber das einsetzende Misstrauen seiner Frau Marion und deren Auszug mit ihrer zweijährigen Tochter Nele aus dem gerade neu erbauten Haus, das ihn veranlasste, aus seiner Heimatstadt wegzugehen. Nicht einmal die Tür hatte er abgeschlossen, als er am Abend des 6. August 1990 in die Regionalbahn stieg. Warum auch? Er hatte nicht vor, jemals wiederzukommen. Und trotzdem war er jetzt wieder hier.
Sehr zur Enttäuschung seiner jungen Zuhörer hörte er auf zu spielen. Zuerst noch scheu, dann mutiger, hatten sich vier oder fünf Kinder neben ihn auf die Bank und auf das niedrige Mäuerchen gesetzt, welches das kleine Areal zum Teil eingrenzte.
Er schnallte sich sein Musikinstrument auf den Rücken und lief durch enge Altstadtgässchen zum Marktplatz. Anstatt der hier früher parkenden Autos hatten die ringsum ansässigen Gasthäuser den Platz mit ihrer jeweiligen Bestuhlung eingenommen. Der Geruch nach Schnitzel, Pommes und anderen schmackhaften Speisen lag in der Luft. Frank verspürte Hunger.
Er hatte sein gesamtes Bargeld, das er in einem Safe seiner Hausbank aufbewahrte, mitgenommen und zusätzlich sein Girokonto geplündert. Wenn er sparsam wirtschaftete, sollte es bis Ende des Jahres reichen – falls er überhaupt so lange leben würde. Sein Sparbuch, sowie die Wertpapiere und Anleihen hatte er zur Hälfte Franziska überlassen – sozusagen als Zeichen der Abbitte für sein Verschwinden – und dies in seinem kurzen Abschiedsbrief, in dem er ihr ebenfalls von seiner unheilbaren Erkrankung berichtete, bekundet. Den anderen Teil sollte seine Tochter Lea erhalten, sobald er selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte. So hatte er es festgelegt und seinen Anwalt entsprechend instruiert.
Sein Blick blieb an der Gaststätte hängen, in die er schon früher gerne eingekehrt war. Am Essen jedenfalls würde er keinesfalls sparen. Schließlich konnte jede Mahlzeit seine Letzte sein – sozusagen seine Henkersmahlzeit.
Am Rande der Außenbestuhlung war ein Tisch frei. Darauf steuerte er zu und platzierte sein Akkordeon neben sich auf den Stuhl. Auf der Speisekarte standen noch immer deftige Gerichte, nur die Wirtsleute hatten einen jugoslawischen Namen. Ach nein – Jugoslawien gab es ja auch nicht mehr. Er bestellte ein Schnitzel mit Pommes, einen großen Salat und ein Radler.
Während er auf sein Essen wartete, fiel ihm auf, dass sich viele Touristen in der Stadt tummelten, eindeutig zu erkennen an den stets in die Umgebung gerichteten Handys. Zudem folgten die Augen einer Gruppe Leute dem ausgestreckten Arm – vermutlich einer Stadtführerin – die zum Erker des „Einhardhaus“ zeigte. Über dessen Fenster schaute der geschnitzte Kopf des legendären Eginhard herab, der Berater und Freund Kaiser Karls aus dem Geschlecht der Merowinger.Wegen seiner imposanten Erscheinung und der eigenen 7-Fuß-Größe, dem heutigen Maß von 1,92 Meter wurde er auch Karl der Große genannt.
Frank Lehmann erinnerte sich an die Geschichtsstunden, in denen er den Zweitklässlern die Fabel erzählte, wie Seligenstadt angeblich seine Namensgebung erhielt und sie gebannt an seinen Lippen hingen. Besonders gefallen hatte den Kindern, dass Emma, die Tochter Kaiser Karls mit Eginhard durchgebrannt war und der mächtige Kaiser nach den beiden suchte. Gefunden und letztlich verraten hätte sie der Duft von Emmas einzigartigen Pfannkuchen. Der Kaiser soll ausgerufen haben:
Selig sei die Statt genannt, in der ich meine Tochter Emma wiederfand.
Zum ersten Mal, seit Wochen, breitete sich ein Schmunzeln in Frank Lehmanns Gesicht aus. Die Bedienung, die ihm den Radler auf den Tisch stellte, folgerte, dass ihr das Lächeln galt, und erwiderte es mit einem: „Zum Wohl, der Herr.“
Frank nahm dies zum Anlass und fragte, ob sie wüsste, seit wann das Schulgebäude am Main schon leer stand und weshalb. Sie verneinte. Zeigte dann aber zum Einhardhaus. „Am besten, Sie erkundigen sich im Büro der Touristeninformation. Die Damen dort können Ihnen bestimmt weiterhelfen.“
Nach der schmackhaften Mahlzeit ging er, wie ihm geraten worden war, zu besagter Tourist-Info, wie ein Schild an der Eingangstür auf die korrekte Bezeichnung hinwies. Die Auskunft, die er bekam, stimmte ihn aber keineswegs freudiger. Um die altehrwürdige Hans-Memling-Schule hatte ein unschöner Kampf begonnen und das Gebäude war in den letzten Jahren zwischen zwei Fronten geraten. Ein Teil der Bevölkerung wollte eine private Lehranstalt daraus machen; der andere die Räumlichkeiten der Allgemeinheit für soziale Zwecke zugutekommen lassen. Beides kostete aber Geld, das keinem der Interessenten zur Verfügung stand.
Ein Abstimmungsaufruf der „Freunde der HMS“ – so nannten sich die Befürworter der gemeinnützigen Nutzbarmachung – an die Einwohner der Stadt, entschied letztlich zu deren Ansinnen. Dennoch dämmerte das Gebäude weiter in seinem komatösen Zustand dahin. Erfreulicherweise trotzte die Substanz des Hauses einem frühzeitigen Verfall; wenn man bedachte, dass der Hauptteil der Schule schon 1843 erbaut worden war und danach stetig erweitert wurde.
Tief in Gedanken versunken fand Frank sich erneut auf dem ehemaligen Schulgelände wieder. Er setzte sich auf die Stufen des mittigen Haupteingangs, nahm sein Bandoneon vom Rücken und schlug einige leise Akkorde an.
Die Gruppe der älteren Personen bemerkte er erst, als einer von ihnen seinen Gehstock anhob und in seine Richtung zeigte. Sollte der untersetzte und glatzköpfige Mann ihn erkannt haben? Und wenn schon, dachte Frank Lehmann, senkte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf sein Musikinstrument. Sekunden später hatte er die Leute vergessen.
Freitag / 15:50 Uhr
„Wenn isch eusch des doch saach. Des is der Lehmann, der Lehrer von der Schul do, der üwer Nacht verschwunne is. Isch hoab den genau erkannt“, beharrte Schorsch und schwang seinen Gehstock beim Laufen hin und her. „Der hot aach genau so e Quietschkommod‘ gespielt – weil, der war doch Musiklehrer – domols in der Schul.“
„Überleg doch mal“, entgegnete Herbert. „Das könnt‘ dreißig Jahr oder sogar länger her sein. Wie willst du den jetzt noch erkenne? Außerdem siehst du sowieso net mehr sehr …“
„Mit der neuen Brille sieht der Schorsch wieder sehr gut“, verteidigte Brigitte ihren Freund.
„Ja genau“, stimmte der zu. „Ihr habt aach noch goar nix gesacht … wie die eusch gefällt. Die Britschitt hot die fer mich ausgesucht. Die war ganz schee deuer. Hier, guckt e mol.“ Bei dem Versuch, die Sehhilfe von seiner Nase zu nehmen, stieß er gegen Herberts Oberarm und die Brille fiel ihm aus der Hand auf die roten Sandsteinplatten vor der Kirche.
„Schorsch!“ Brigittes Aufschrei übertönte fast den Schlag der Kirchenglocke, die gerade 16 Uhr schlug. „Du bist aber auch manchmal ungeschickt“,