Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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zusammen. Wenigstens war es nicht frostbitterkalt. Die Kellerbeleuchtung passte hingegen zur Situation. Sie war spakig und trübe.

      “Schätze, es ist an der Zeit, dass wir einander vorstellen.”

      In der Tat war es in den Turbulenzen der zurückliegenden Zeiteinheiten bislang versäumt worden, eben das zu tun. So wurde es auf Anraten des Bartträgers mit dem Unfall-Bein nun also nachgeholt. Den, wie ich es sah, farbigsten Namen trug die einzige weibliche Person unter uns, ein Wesen ungewissen Alters, das von seinem Äußeren her ein wenig verschattet wirkte. Sie hieß Melissa Freudenberg.

      “Wir sollten uns irgendwie die Zeit vertreiben, solange man uns hier im Ungewissen schmoren lässt. Es könnte vielleicht helfen, nicht nach und nach komplett die Nerven zu verlieren.”

      Der Beitrag stammte vom Begleiter Melissa Freudenbergs. Im Trümmerlicht der Deckenlampen wollte es mir scheinen, als hätten dessen Sommersprossen vorübergehend das Erscheinungsbild von Blutmalen angenommen. Dabei machte der von der Taille aufwärts leicht übergewichtige Mann mittlerweile einen recht ausgeglichenen Eindruck. Sein Name lautete Arndt Andersen. Er fuhr fort:

      “Wie wäre es, liebe Mitgefangene, wenn wir zu diesem Zweck uns gegenseitig Geschichten erzählen.”

      Indem er aus dem Schatten seines überlangen Freundes heraustrat, stellte Hans Pauli, der Kleinere des Männerduos Pat&Patachon die folgende Zwischenfrage:

      “Geschichten? Was für Geschichten?”

      “Das liegt, denke ich, im Ermessen des Erzählers.”

      Nach dieser Antwort und einer kurzen Bedenkpause folgten die ersten Reaktionen. Der Giraffenmann, der, wie man inzwischen erfahren hatte, auf den Namen Walter Steinkorn hörte, machte den Anfang.

      “Mein Freund und ich, wir schließen uns dem Vorschlag an, nicht wahr, Hansi?”

      “Soweit keine Einwände.”

      “Melissa, du bist ja sicher auch mit von der Partie?”

      “Bin ich.”

      “Ich mache ebenfalls mit.”

      “Willkommen im Klub, Castor. Bleiben noch Sie übrig, Max.”

      “Weiß zwar nicht, wohin uns die Sache genau führen wird. Aber einverstanden. Will mich nicht ausschießen.”

      Nach Wortbeiträgen von Arndt Andersen und meiner Wenigkeit bekräftigte der Kamerad mit dem rostroten Vollbart, der sich der Gruppe als Max Kohlmunk vorgestellt hatte, und, wie von mir unlängst vermutet, so gerne “Leader of the Pack” gewesen wäre, seine letzten Worte, die anfängliche Skepsis zurückstellend, mit einem zustimmenden Kopfnicken. Damit war das Vorhaben formell abgesegnet…

      “Verehrtes Publikum, ich bringe, aus gegebenen Anlass, ein - ich nenne es hier mal - kleines Demi-Monde-Epos zu Gehör.”

      Mit dieser Eröffnung gab, was ich so nicht erwartet hatte, Walter Steinkorn den erzählerischen Auftakt. Bevor er aber ansetzte, wandte er er sich erst noch - und das in einem komplizenhaften Ton - an seinen Freund:

      “Oder als was würdest du die Geschichte bezeichnen, Hansi?”

      “Ich? Nun… als, ich würde sagen, Räuberpistole.”

      Kapitel 1

      Als er aufwacht, ist er fünfzig. Die See ist nah. Er hört ihr silbernes Rauschen. Es geht Wind, Nord-Nordwest. Er ist nicht allein. Aber er fühlt sich so. Constanze ist sicher vor ihm aufgestanden, um etwas vorzubereiten, um ihn zu überraschen. Er streckt die Beine im Bett. Sie schmerzen. Er macht sich nichts aus Geburtstagen. Schon als er noch Kind war, war das so. Er hat nie eine Party gegeben. Jedenfalls kann er sich an keine erinnern. Ein Vogel fliegt wie etwas Fremdes am geöffneten Fenster vorbei. Es ist keine Möve. Ihn friert.

      Die Läden haben heute geschlossen. Weil Sonntag ist. Es ist noch nicht spät. Wer schläft noch? Es scheint, als atme die Zeit, verkehrt herum ausgestreckt, mit schlaffen Wangen. Ein Wachtraum? Im Ort läuten keine Kirchenglocken. Haben sie je geläutet? Er dreht sich auf die andere Seite. Sein Kissen ist nass.

      Manche Tage, von denen man glaubt, sie könnten schlimm werden, werden das gar nicht. Andere dagegen sind bereits so geboren. Dieser Gedanke kommt ihm nicht, er ist ihm quasi eingeflüstert worden, gestern, kurz vor dem Einschlafen, während auf Gräsern, Steinen und Laub noch letztes mondsüchtiges Licht lagerte, das in Perlschnüren erlosch, ehe flüsternde Stimmen darüber hinweg gingen.

      Er hatte sich zeitig hingelegt. Constanze war zu den Nachbarn gegangen. Sie wusste, er fühlte sich nicht. Und sie wusste ebenso, dass ihm nicht nach Gesellschaft zumute war. Sie hatten nachmittags gemeinsam einen ersten Spaziergang gemacht, am Wasser, nicht für lange, denn es stürmte. Es gib keine Fischernetze mehr dieses Jahr entlang der Küste. Das fiel ihm sofort auf. Wahrscheinlich ein Opfer, dachte er, das man den Touristen gebracht hat.

      Sie trug, als sie einander zum ersten Mal begegneten, weiße Schuhe mit Pfennigabsätzen, sie ließen ihre Waden hervortreten, es machte ihre sanft gebräunten nackten Beine noch begehrenswerter. Es waren perlweiße Schuhe, vorne offen, man sah die rot lackierten Nägel ihrer Zehen. Auch die waren begehrenswert. Alles an ihr war begehrenswert. Er sieht das, obwohl es lange vorbei ist. Er schließt die Augen. Die innere Zeit. Sie fließt so anders.

      Er fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Sie fühlen sich rau an. Er schließt den Mund. Er schließt das Fenster. Ich sitze, denkt er, gleichsam in einer geschlossenen Welt. Er wird sich jetzt bald in Bewegung setzen und hinuntergehen in den großen Wohnraum. Alles wird vorbereitet sein, alles wie gewohnt. Er empfindet Freude bei dieser Vorstellung. Aber das ist nur ein Gefühl unter vielen. Er bräuchte Stauraum für seine Gefühle und eine Ablage für seine Gedanken. Er denkt kurz an Scylla, denkt es beiseite. Sein Atem bleibt flach. Sein Herz tickt diskret. Er geht ins Bad. Sie haben dieses Jahr ein geräumiges Ferienhaus mit zwei Ebenen gemietet. Es könnten mühelos mehrere Familien darin Platz finden. Es hat eine feste Garage, einen Kamin, liegt ein wenig im Hinterland und unweit der nächsten Ortschaft. Das Dach decken rote Schindeln, das Haus ist aus weiß verputztem Stein. Es besitzt Schwere. Wilder Ginster wächst im Vordergarten. Der Rasen, den es auch gibt, ist verbrannt. Man habe bereits sonnenreiche Tage gehabt, so hörten sie es von den Nachbarn, die regelmäßig hierher kommen wie sie, jedoch üblicherweise länger bleiben.

      Der Mann im Haus nebenan, ein Brite, war vormals Geschäftsführer einer Firma für Segler- Bedarf. Seine Frau ist klein, quirlig und Westfälin. Beide haben aschgraues Haar und keine Kinder. Beide sind gut zehn Jahre älter als Constanze und er. Für sie sind es kategorisch ‘Die Alten’ von nebenan, was ein wenig übertrieben erscheint. Man grüßt einander höflich, trinkt auch schon mal abends im Freien ein Glas Wein. Als der Nachbar vorvergangenes Jahr in Pension ging und aus diesem Anlass zu einem Abendessen lud, kam man etwas ausführlicher miteinander ins Gespräch. Die Frau kocht sehr ordentlich. Ihr Gatte sagte zwischenzeitlich beim Essen:

      “Man ist vielleicht irgendwann oben, aber man bleibt nicht dort.

      Dieser schmale Satz, nicht bitter, eher mit Gleichmut ausgesprochen, ist Oskar irgendwie haften geblieben.Vielleicht deshalb. Oder weil er im Englischen metallischer klingt.

      Die Nachbarin, so eine Randnotiz zu vorgerückter Stunde, arbeitete dereinst als Tänzerin. Man sieht es ihr nicht mehr an. Und sie war, wie sie mit einem Pas-de-deux-Lächeln ihrer Mundwinkel preisgab, in erster Ehe mit einem Spion verheiratet, mit einem Ostspion. Sie erzählte davon, als schildere sie ein Kochrezept, Sie selbst habe zeitweise auch ein kleines bisschen spioniert, doch sei ihr nichts passiert, ihr Mann dagegen wäre im Gefängnis gelandet.

      “Und was ist Ihr Geheimnis?

      “Oh, ich glaube…also, ich wüsste jetzt