Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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an Constanze. Oskar erinnert sich an den Ausdruck im Gesicht seiner Frau. Etwas wie parasexuelle Schamröte gepaart mit sanftem Bedauern lag darin. Man trennte sich an jenem Abend fast freundschaftlich, was sich in der Folge wieder etwas verlor. Es sind immerhin nette Leute, ihre Nachbarn, nur eines störte Oskar von Anbeginn: Der Mann mäht jeden zweiten Tag das Gras im Garten hinter dem Haus, mit einem kreischenden, stinkenden Rasenmäher. Er müsste es gar nicht. Jedoch tut er es trotzdem. Constanze nahm ihn zunächst dafür in Schutz. Dann jedoch störte es sie eines Morgens ebenfalls.

      An diesem Wochenende herrscht Ruhe. Es wird nicht gemäht. Der Elektromotor des eitergelben Monsters ist offenbar defekt. Die Maschine steht vor dem Schuppen, und der Nachbar bastelt daran herum. Er flucht stellenweise laut, und plötzlich setzt er sich in seinen Wagen und fährt davon. Oskar beobachtet das vom Badezimmer aus, das neben den Schlafräumen liegt und ein Fenster hat. Weinranken wuchern am Fensterkreuz. Das sieht man hier in der Gegend eher selten. Oskar nimmt einen Schluck Wasser aus der Leitung. Er hat einen trockenen Hals. Das Bad ist riesig wie alles im Haus. Er bleibt darin länger als gewöhnlich.

      “Das, was du gesagt hast, hat mich verletzt.

      “Das sollte es.

      Sie haben sich gestritten, auf der Herfahrt. Es war ein heftiger, ein böser Streit. Constanze wollte schon aussteigen, sich auf die Bahn setzen und heimkehren. Sie ließ, nur weil Oskar einlenkte, von diesem Vorhaben wieder ab. So stellte sie es dar. Sie haben den Streit nicht begraben, sie haben ihn lediglich mit trockenen Zweigen notdürftig zugedeckt. Die letzten hundert Kilometer sind sie offen gefahren, Oskar wollte es so, obwohl es nicht sehr warm war und Constanze kein Kopftuch dabei hatte. Sie beklagte das, aber er setzte sich durch. Letztes Jahr haben sie den Urlaub getrennt verbracht. Sie brachen eine eherne Regel, die Regel, jeden Sommer gemeinsam an die französische Atlantikküste zu fahren.

      Er sieht eine Bildseite aufklappen, eine Bild-Doppelseite: Ein Badeort, der wie ein langer, buckliger Schatten daliegt. Ein Strand, der etwas Ödes hat. Steine, die uralten Staub ausschwitzen. Kein Lüftchen zittert. Keine Knospe liebkost diesen Nachmittag. Er ist in die Kirche eingetreten, auf der Suche nach Abkühlung und möglicherweise nach etwas anderem noch, von dem er nicht sicher weiß, was es sein könnte.

      Als er vorhin im Hotel die Treppe hinabstieg, folgte ihm ein junges Pärchen. Und überholte ihn. Man grüßte ihn nicht. Der Junge lachte. Das Mädchen kicherte. Unten blieben die jungen Leute kurz stehen und küssten sich. Er fing einen Blick auf, den des Mädchens, er ging spöttisch durch ihn hindurch, es traf ihn in Höhe der Leiste. Oskar beschleunigte seinen Schritt. An diesem Morgen musste man die Treppe benutzen, weil der Aufzug außer Betrieb war.

      Im Innern der Kirche sah er eine Greisin, sonst niemand. Sie kniete vor einer Bank und hielt die Hände gefaltet. Sie trug ein braunes Kopftuch. Es klebte an ihr wie Packpapier. Und ihm war, als wäre Braun die einzige Farbe dieses Tages. Er verließ das Gotteshaus ohne innere Einkehr. Machte es Sinn, weiter durch den Ort zu ziehen? Er hätte sich noch hinunter an den Strand begeben können. Doch schreckte ihn die Leere dort. Und seine Füße flüsterten ihm etwas zu von: Pause machen. Es war ein Uhr. Er würde sich in der Nähe ein schattiges Café suchen.

      Er hatte Abstand gewinnen wollen, deswegen war er nach Biarritz geflüchtet. Er hatte ihn gefunden, aber anders als gedacht. Der Einfall, diesen Ort zu wählen, war nicht der seine gewesen. Er hatte zu jener Zeit keine Einfälle. Zuhause, kurz vor seiner Abreise, war zweierlei geschehen: Er hatte sich entschlossen, vorübergehend aus der gemeinsamen ehelichen Wohnung auszuziehen und war dabei unerwartet auf etwas gestoßen, das ihm streckenweise so etwas wie Richtung und Inhalt gab für sein ziellos vagabundierendes Denken. Man konnte es, wie er im Nachhinein befand, als die Fabel des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes bezeichnen.

      Oskar hat seine Morgentoilette beendet. Er löscht das Licht, das er versehentlich einschaltete, als er das Bad betrat, und ebenso die Bilder des letzten Sommers, die begonnen haben, seinen Kopf zu fluten. Er wird nach unten gehen. Er wird sich nicht erst ankleiden, sein Morgenmantel genügt. Es ist keine Nachlässigkeit. Es ist eine Art Urlaubs-Angewohnheit. Außerdem, er hat ja Geburtstag.

      “Alles Liebe und Gute für dich und dein neues Lebensjahr!

      “Danke, Stänzchen.”

      Er nimmt ihre Umarmung entgegen. Sie hat schon unten an der Treppe gestanden und gewartet. Kerzen brennen. 2 x 25 weiße und rote Kerzen. Der Tisch ist geschmackvoll gedeckt. Sie hat überhaupt einen guten Geschmack. Constanze hat die Vorhänge zugezogen, vermutlich damit die Kerzen eine Chance haben gegen das gleißende Tageslicht. An einer undichten Stelle dringt ein Streifen Morgensonne hindurch. Es ist, als käme er von einem anderen Stern.

      Sie trägt ihr rapsgelbes Sommerkleid und das weißblonde Haar offen. Es hat nicht mehr ganz die Weichheit von früher, aber immer noch die alte Fülle. Sie hat Lippenrot aufgelegt und duftet nach dem Parfüm, das er an ihr am liebsten hat. Sie lächelt, er setzt sich.

      “Geht es dir besser? Hast du einigermaßen gut geschlafen?

      “Danke. Du hast ja sogar schon frisches Backwerk geholt!

      “Und Milch. Und Honig.”

      “Sehr schön… Dabei wäre das ja doch eigentlich meine Sache gewesen."

      Er fährt, wenn sie hier Ferien machen, allmorgendlich zur Boulangerie im Ort. Seine Frau schläft für gewöhnlich länger als er. Sie haben getrennte Schlafzimmer. Manchmal macht er unterwegs Halt bei einem Bauern, um frische Eier zu kaufen. Er nimmt dazu das Fahrrad. Er liebt es, zwischen den blumenbestickten Wiesen zu radeln, ganz früh am Morgen, wenn noch Tau auf den Gräsern glänzt, oder durch die zarten, weißen Bodennebel warmer Tage, denen Regen vorausging. Man kann Pferde auf der Weide beobachten und Raubvögel unter dem Himmelsblau. Heute also war sie es, die mit dem Fahrrad losgefahren ist, um das Nötige einzukaufen. Er dachte sich das natürlich irgendwie. Es ist kein stochastisches Ereignis.

      Selbstverständlich frühstücken sie nicht innerhalb des Hauses, sondern setzen sich, nachdem er seine Geschenke ausgepackt und die Kerzen ausgeblasen hat, auf die breite Terrasse. Das mit dem gedeckten Tisch drinnen geschah jetzt nur wegen der besonderen Atmosphäre. Er hilft ihr beim Heraustragen und kümmert sich um die Eier. Er kocht sie auf den Punkt, ohne Uhr.

      Darauf versteht er sich. Ein Geschenk hat er gleich umgelegt. Es ist eine dünne Halskette aus Silber mit einem Stein. Es ist ein schwarzer Onyx. Er hatte schon einmal einen solchen und hat ihn dann leider beim Baden verloren. Constanze hat ihrer Gabe ein paar reizende Zeilen beigelegt.Als sein Blick darüber hingleitet, rührt es sein Herz. Sie hat eine sehr saubere Handschrift, die sich leicht nach links neigt.

      Sie sprechen zunächst wenig. Üblicherweise liest Oskar beim Frühstück die Morgenzeitung. Es gibt hier keine deutschsprachigen Zeitungen, dafür englische. Er kauft stets zwei Exemplare, eine für den Nachbarn, die er ihm für gewöhnlich vor die Haustür legt. Heute fällt die Lektüre allerdings aus. Constanze hat vergessen, das Druckwerk mitzubringen. Er beschwert sich jedoch nicht. Das zweite Geschenk, das sie ihm gemacht hat, ist ein Büchlein für persönliche Aufzeichnungen. Es hat einen blauen Ledereinband. Oskar hat einmal in einem Nebensatz davon gesprochen, er denke daran, wieder Tagebuch zu führen, so wie früher, zur Schulzeit. Constanze hat es sich gemerkt.

       "Es geht dir immer noch sehr nah, stimmt’s?

      “Ja, Stänzchen, das stimmt.”

      Sie hat Recht. Der Tod der Katze… Er hat unruhig geschlafen. Er trauert. Und die Trauer ist ihm in den Schlaf gefolgt. Scylla ist erstickt. Sie ist gerade einmal vier Jahre alt geworden. Das Tier hatte bereits seit Tagen Probleme mit der Atmung gehabt. Dann verschlimmerte sich ihr Zustand kaskadisch. Man konnte nichts tun. Oskar war verzweifelt. Es war Sonntag. Er war allein zuhause. Er wollte mit ihr in die Tierklinik. Es war zu spät. Es ging alles zu rasch. Während er bebend den Leib des Tieres hielt, kämpfte dieses wehklagend, aber tapfer mit rasselnden Atemstößen um sein Leben, doch