Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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zu beziehen. Gut, gut, so mag es denn geschehen. Einiges wird wohl ungenau bleiben - doch bei aller Unschärfe - es gilt, gewissermaßen etappenweise, jenes Material zusammenzutragen, welches sich eignet, eine große Leinwand zu kleiden. Und das fallweise, in einem kleinen Reigen handgeschöpfter epischer Passpartouts

      Der neue Tag, noch unbekleidet, meldete sich mit einem zarten Weckruf aus der Kehle des Nichtstuns. Es war ein Tag aus Altsilber, nein, eher ein nasser, ein graulederner, ein verfrühter Vorwintertag, durchzogen von weichen, unpräzisen Nebelstreifen, und die Feuchtigkeit, die sie verströmten, konnte man förmlich riechen. Selbst hier, im Herzbeutel der Stadt.

      Eine Frau mittleren Alters auf dem Gehsteig gegenüber - sie hatte einen weißen Pudel im Schlepptau. Und sie trug eine braune Nerzstola. Und sie war eben einer cremefarbenen Limousine entstiegen, der Pudel, wie Hunde es tun, mit einem raschen Sprung hinterdrein. Der Schritt der Frau wirkte leichtfüßig. Ihre Bewegungen zeigten aber, so mein vorläufiger Befund, obschon geschmeidig im Ablauf, eine gewisse einstudiert wirkende Eleganz.

      Allein, ein Pelz, murmelte ich, während ich mit der interesselosen Gefallsucht eines Hustenbonbons an meiner Zigarre sog, ein Pelz macht noch keine Dame. Warum bewegte gerade diese Szene etwas in mir? Hätte es nicht ebenso gut etwas anderes sein können, ein Schatten auf dem Mars beispielsweise? Ich hatte keine Ahnung.

      Ich betrachtete diese Person, bis sie aus meinem Gesichtsfeld entschwunden war, indessen ich, was mich selber anbetraf, einem vagen Empfinden folgend, weitgehend weltvergessen, der Überlegung nachhing, ob ich wohl für das, was die Zukunft für mich bereit hielt (was immer das sein mochte), vielleicht so etwas nötig haben würde wie eine, wie soll ich mich ausdrücken… Seelen-Diät? Dieser Gedanke, mochte er gleichwohl unbotmäßig sein, ging mit dem Lidschatten eines dunklen Gefühls einher, und das, soviel stand für mich fest, war herzmuskeltief.

      Machen wir einen Ausfallschritt. Nicht, um dem eigenen Zwergen-Schicksal auszuweichen. Auch nicht, um Mitglied des Hosenbandordens zu werden. Vielmehr fallweise introspektiv. Man spürt da sein Eigengewicht. Das meine beträgt an guten Tagen 87 Kilo.

      Das Café übrigens, in dem ich meine Verabredung hatte, lag - wie so manches Glück oder Unglück dieser Erde - gleich um die Ecke. Ich hatte es infolgedessen nicht weit. Und ich schätze es, es nicht weit zu haben. Ja, ich schätze eine gewisse Art von Nähe. Diese Art von Nähe. Ich vermutete, Carl würde schon vor mir da sein. Ich war pünktlich. Carl war, falls der Ausdruck gestattet ist, überpünktlich.

      G. Antheil: Symphony for Five Instruments (Second Version)_ III. Presto - die ersten Takte - das war der Klingelton (ein “Geschenk”) Ich holte das Smartphone aus der Tasche. Viola (die Schenkerin) war am Apparat.

      “Wo bist du?”

      “Auf dem Weg… zu einer Verabredung.”

      “Mit wem?”

      “Kennst du nicht. Sein Name ist Carl. Carl Vieleck.”

      “Und wo?”

      “In einem Café. “

      “Kenne ich das denn?”

      “Ich denke nein. Es heisst Stofinger.”

      “Seltsamer Name.”

      “Seltsame Fragen… Wir sehen uns, Schatz. Später. “

      “Ja.”

      “Also. Bis dahin.”

      Ich beendete das Telefonat. Schaute nach oben. Das Wetter änderte sich. Ich schätzte, dahinter verbarg sich gerade keine Navier-Stokes-Gleichung, sondern vielleicht nur eine mittlere Schnapslaune der Schöpfung.

      Ich blickte um mich herum. Vor zwanzig Jahren gab es hier wie andernorts sehr viel weniger Fremde. Es war folglich bunter jetzt, ein kunterbuntes Farbenspiel…Die wundervollste Musik, sagte Carl neulich, sei in den menschlichen Sprachen zuhause. Sehe ich ebenso. Zu guter Letzt aber, auch das darf nicht unerwähnt bleiben, endet alles auf dem Gottesacker. Wäre ich Cherub oder Zauberer, überlegte ich, wäre mir das herzlich egal.

      “Ich habe im Grunde nie recht verstehen können, wie ein Mensch sich anmaßen kann, einen anderen Menschen zu verurteilen.”

      “Du meinst, von Amts wegen?”

      “Vorderhand.”

      “Und mir will es nicht in den Kopf, wie ein Mensch glauben kann, dass ihm, indem er ein Grundstück auf unserem Planeten käuflich erwirbt, dieses Stück Erde von Stund an als sein persönliches Eigentum betrachten kann. Ist das nicht infam?”

      “Monogam infam.”

      “Horch! Hörst du? Die Vögel?”

      “Nein… Warte… Ja, doch.”

      “Eine alte Regel besagt, dass man während der Mahlzeit nicht trinken soll."

       "Sondern?"

      “Danach.”

      “Aha.”

      “Wolltest du nicht einst die Welt verändern, Castor?”

      “Ja… Und?”

      “Die Welt hat dich verändert, nicht wahr.”

      “Das ist wohl richtig.”

      “Mein Vater äußerte - als er noch lebte - oft und gerne den Satz: Aus dir, mein Sohn, hätte etwas Großes werden können. Leider besitzt du das Talent, deine Chancen gründlich zu verschlafen.”

      “Hm.”

      “Von mir heisst es übrigens auch, ich sei eine Steißgeburt gewesen…Wie war das bei dir?”

      “Keine Ahnung. Ich habe, glaube ich, an dem Tag gefehlt.”

      Gedächtnis-Protokoll; eines Gesprächs mit Carl… Gesprächsfetzen. Etwas wirr. War es neulich? Gleichviel.

      Sagte ich nicht vorhin, das Café, in dem ich verabredet war, läge gleich um die Ecke? Was aber, wie ich lernen musste, nicht zwingend zur Folge hat, dass man in Kürze an seinem Ziel ist, nicht, wenn sich unangemeldet eine Spalte vor einem auftut. Und das an einem Tag, der wie geschaffen schien für Gruppensex unter Stockrosen oder Ölsardinen.

      Zunächst gab es da einen Schusswechsel. Auf offener Straße. Bleidunst. Lärm. Schreie, Chaos… Tödliches Spiel? Ein Attentat? Ein Überfall? Eine Maskerade? Jemand zerrte mich in einen nahen Hausflur. Eine fremde männliche Hand. Ein bärtiges Gesicht.

      Was mir sofort ins Auge fiel: Der Mensch in dem sandsteinfarbenen Safari-Look, der mich unaufgefordert in den leichenblass beleuchteten Hauseingang manövriert hatte, humpelte auf dem rechten Bein. Ich zeigte darauf.

      “Sind Sie verletzt?”

      “Nein. Stammt von einem Unfall… Als ich elf war.”

      “Was geht hier vor?”

      “Keine Ahnung.”

      “Und wer sind Sie?

      “Ein Passant, wie Sie.”

      Der Dialog stoppte an dieser Stelle, da zwei brandneue unbekannte Personen die örtliche Bühne betraten. Ein Mann. Eine Frau. Ein Paar, wie ich zunächst anzunehmen geneigt war.

      “Wir sollten besser verschwinden! Und zwar rasch! Sie werden jeden Moment hier sein.”

      So sprach der männliche Neuankömmling. Sein Tonfall wirkte unentschieden und hastig. Und er machte, vermutlich angesichts widriger Umstände, keinen sehr entspannten Eindruck. Er schien mir jung, im Dämmerschein des Hausflurs, hatte jedoch kaum Haare auf dem Kopf (oft aber täuschte ich mich in den Menschen, nicht allein, was das Alter anbelangte). Er trug eine