„Schon verrückte Zeiten gewesen damals“, fügte der Musiker nachdenklich hinzu, trank seinen von mir bestellten Drink aus, fluchte noch was Unverständliches und ging zurück auf die Bühne, die nun wieder „die Seine“ war.
„Worried Life Blues“ ertönte mit Gänsehautfaktor.
Ich verdrückte mich an meinen Platz neben der Eingangstür. Big Willy Brown sah ich nie wieder.
Die Bedienung kam zu mir, nachdem ich mich gesetzt hatte.
„Señor, sind Sie hier wegen eines Vorstellungsgespräches?“
„Ja, woher weißt du das?“
Ohne meine Frage zu beantworten, teilte sie mir mit, dass ich im ersten Stock des Hauses erwartet werde. „Zimmer 112!“
Ich überlegte, ob ich nicht einen weiteren Kaffee zum Aufmuntern bestellen sollte. Leichtes Unbehagen machte sich Magen aufwärts breit.
Ach was, verbannte ich diesen Gedanken wieder und bezahlte den Rest der Zeche.
Da ich keinen Aufgang im Haus finden konnte, ging ich ins Freie und sah mich um. Seitlich der Hausmauer war eine Treppe angebaut, offensichtlich war das der Weg nach oben.
Manolo da Silva
16 Jahre davor …
In der Nähe des Madrider Bahnhofes Atocha, jenem, der viele Jahre später durch einen verheerenden Bombenanschlag der Al-Qaida traurige Berühmtheit erlangte, machte sich der 19-jährige Manolo da Silva auf, um als blinder Passagier von Madrid nach
Barcelona zu reisen.
Die beste Möglichkeit, dies kostenlos zu tun, bot die staatliche Eisenbahn und da erfahrungsgemäß die Frachtzüge, an denen meistens leere Waggons angekoppelt waren. Man sollte allerdings körperlich einigermaßen fit sein, da man erst außerhalb des Bahnhofes aufspringen konnte. Genau an der Stelle, an jener der Zug noch nicht die volle Fahrtgeschwindigkeit erreicht hatte und die Gefahr von Eisenbahnarbeitern erwischt zu werden, geringer war. Gefahr lauerte auch in den Frachträumen der Waggons selbst. Sogenannte „Hobos“, die es vor einem selbst geschafft hatten, aufzuspringen, verteidigen ihre hart erkämpften Plätze. Nicht selten passierte es, dass einer bei voller Fahrt wieder hinausgestoßen wurde, wenn er gerade dabei war, sich hochzuziehen.
Das eherne Gesetz hieß: „Wer zuerst kommt, … “
Im Übrigen wusste man nie, wie wohl gesonnen einem die vermeintliche Reisebegleitung war.
Es gab Fälle, in denen Tiere, die in die Schlachthöfe transportiert werden sollten, ihrem Schicksal schon eher begegneten. Schafe wurden aus dem Waggon geworfen, natürlich an einer Stelle, wo der „Hobo“selbst abspringen konnte, um das Tier zu schlachten. Was er selbst nicht benötigte, wurde an arme Leute verkauft.
Deswegen hatte die Eisenbahngesellschaft als „Hobos“ getarnte Männer angeworben, um diese „Volksschädlinge“ zu bekämpfen. Andererseits gab es linke Brüder, die wenn man gerade ein Nickerchen machte, einem die letzten Zigaretten entwendeten und wenn vorhanden, auch die Peseten.
Manolo da Silva hatte nichts, was sich zu stehlen lohnte. Seine Schulzeit verbrachte er bei den Ordensbrüdern von „La Salle“, einer streng katholischen Gemeinschaft. Sein Vater hatte gehofft, dass diese ihn besser auf das Leben vorbereiten konnten als er, der vom spanischen Bürgerkrieg gezeichnet war, es je vermögen würde.
Während der Zug seine Fahrt verlangsamte, sah er, wie zwei Burschen versuchten, auf seinen Waggon aufzuspringen. Manolo hielt dem einen seine Hand zur Unterstützung hin, der Zweite schaffte es nicht mehr. Man hörte nur noch seinen Zornesschrei.
„Da war einer wohl nicht gut genug vorbereitet?“, fragte Manolo den „Hobo“, der keuchend in der Hocke verharrte.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte er nach einer Weile der Erholung.
„Er hat noch meine Zigaretten, die ich mir zusammengebettelt hatte!“
Manolo wollte ihn beruhigen, aber er gab erst Ruhe, als die Müdigkeit ihn übermannt hatte. Da Silva musterte seinen neuen Begleiter argwöhnisch, als dieser sich in eine Ecke verkroch. Eine Handvoll Stroh als Polster, eine kleine Geste des Dankes in Richtung seines Mitfahrers, danach schlief er ein.
Manolo zog unter seiner Jacke eine kleine
zusammengefaltete Decke hervor, setzte seine Mütze auf, hing seinen Gedanken nach und schloss seinerseits die Augen. Am nächsten Morgen, als die Sonne durch die geöffnete Luke strahlte, befreiten sich die beiden Passagiere aus ihrem Schlaf.
„Die Mistviecher stinken erbärmlich!“, jammerte der eine in Manolos Richtung. Schüttelnd entledigte er sich von den Strohhalmen des letzten Stiertransportes, dass ihn kaum zu wärmen vermochte.
Manolo meinte lapidar: „Ausgestunken hat es sich erst, bei der Stierhatz in Pamplona, oder bei einer Corrida in Andalusien! Schafe würden um einiges mehr müffeln!“, fügte Manolo noch hinzu.
„In der Nacht wärmen sie einen und am nächsten Morgen blöken sie dir den Dreck aus den Ohren!“
Sein Begleiter bestätigte dies mit einem Kopfnicken, dabei kratzte er sich genüsslich dort, wo die Sonne nie hin scheint. Eine gute Stunde lang verbrachten sie schweigend. Manolo summte jene Melodie, die einer der Erzieher von „La Salle“ immer vor der Bettruhe auf seiner Flöte gespielt hatte. Irgendwann unterbrach der Zigarettenlose, Manolos Summen.
„Hey, sag was hast du vor, wo geht es hin?“
„Nach Barcelona …“, erwiderte Manolo.
Manolo erzählte dem Fremden, von seinem Traum eine kleine Bar zu eröffnen, wenn er die nötigen Mittel dafür aufgetrieben hatte. Der andere schüttelte den Kopf und ließ Manolo mit seinem Traum allein.
„Wohin reist du erster Klasse?“, wollte Manolo mit süffisantem Ton von seinem Gegenüber wissen.
„Zu meiner Schwester nach Tarragona, die hat mir in der Zementfabrik ihres Mannes einen Job in Aussicht gestellt, hoffe ich jedenfalls.“
Manolo war neugierig geworden und bohrte weiter. „Was ist mit deinem Kumpel, der es nicht geschafft hat?“
„Oh, Navas meinst du … ja Alejandro war immer schon ein Verlierer, ständig Probleme mit der Polizei, Gewalt in der Familie, du verstehst? Nichts Großes, aber genug, um untertauchen zu müssen.“
Manolo nickte und hielt ihm eine Zigarette hin. Die ersten auftauchenden Häuser kündigten den baldigen Zielbahnhof an. Knapp vor dem Güterbahnhof verlangsamte der Zug seine Fahrt. Es war an der Zeit, den kostenlosen, unbequemen Untersatz zu verlassen.
Die Wege der beiden trennten sich so schnell, wie sie sich gekreuzt hatten.
Viele Jahre vergingen, Manolo da Silva konnte seinen Traum leider nicht erfüllen. Gelegenheitsarbeiten hielten ihn über Wasser. Einmal bekam er sogar eine
Festanstellung als Metzgergehilfe in einem Einkaufszentrum. Abteilung: „Schwein, Schaf, Rind!“
Seine Aufgabe war es, große Fleischteile in Portionen zu zerlegen und anschließend in Plastiktüten zu verschweißen. Irgendwann gab es zum wiederholten Male Streit mit seinem Vorgesetzten. Dieser kritisierte Manolos großzügige Abwaage des Fleisches.
„Alles zum Wohl der Kunden, die Zeiten sind hart!“, argumentierte Manolo, wissend das sein Job damit zur Verfügung stand.
Eines Tages, als nichts Besonderes auf dem Programm stand, kam er in seiner bevorzugten Tapas Bar mit einem Engländer ins Gespräch. Dieser erzählte ihm, dass in Almeria im Frühjahr Leute für Bootsreparaturen gesucht würden.
„Bootsreparaturen …“, sinierte Manolo nachdenklich.
Ein paar Wochen später machte er sich auf den Weg. Er löste seine Unterkunft bei einer älteren Frau auf. Diese war überrascht