Chris richtet sich auf und sieht mich verwundert und verärgert zugleich an. „Er hat dich beleidigt?“ Das letzte Wort kommt geknurrt aus seiner Kehle.
„Ja, aber das ist mir mittlerweile wieder egal. Ich frage mich allerdings, was in Leuten vorgeht, die beim ersten Treffen den Gastgeber als dick bezeichnen und ihm im zweiten Satz auf einen offensichtlichen Makel ansprechen. Was soll das?“
„Das ist ein sehr primitives Verhalten. Bei Tieren kann man sowas beobachten. Ein niederes Tier begegnet einem Alpha, doch anstatt zu ducken, greifen manche Tiere gleich an, um ihre hohe Position klarzumachen“, versucht Chris zu erklären.
„Aber als er dann auf den echten Alpha traf, war er plötzlich ganz klein“, bemerke ich und deute auf Chris selbst. „Denn nachdem du da warst, war er still.“
Chris zuckt mit dem Schultern. „Hätte er dich in meinem Beisein beleidigt, hätte ich ihn rausgeworfen. Das wird er gespürt haben.“
Es ärgert mich, dass Bill dachte, er könnte mich beleidigen. Allerdings beruhigt mich der Gedanke, dass er nun wahrscheinlich Angst vor mir hat, nun da er gesehen hat, zu was ich fähig bin. Wenn dieser Idiot wüsste, dass ich noch zu so einigem mehr fähig bin, als nur Feuer zu manifestieren!
„Warum grinst du?“, will Chris wissen und reißt mich aus meinen Gedanken.
Mein Grinsen wird breiter. „Eigentlich bin ich ganz froh, dass er einen Teil meiner Magie gesehen hat.“
Chris erwidert mein Grinsen und nickt. „Er hat eine Spur aus Angstschweiß hinterlassen, die ich noch immer riechen kann“, sagt er und wir beide lachen.
Am nächsten Morgen entdecke ich beim Frühstück eine SMS von Fletcher.
„Sorry, dass ich mich jetzt erst melde. Ich war beim See, konnte aber nichts entdecken. Alles wie immer. Aber wenig Tiere, könnte aber auch an einem Wolf oder Fuchs liegen. Werde es weiter beobachten.“
Seufzend lege ich das Handy zurück auf den Tisch.
„Hat Carmen sich heute Nacht noch gemeldet?“, fragt Chris, der mir gegenüber sitzt und seine Spiegeleier isst.
Ich schüttle mit dem Kopf. „Nein, aber Fletcher. Ich hatte ihn gestern gebeten, beim See vorbeizuschauen. Aber ihm ist auch nichts aufgefallen.“
Chris´ Blick gleitet zur Fensterfront und ich sehe, wie seine Pupillen erst kleiner, dann größer werden. „Ist der See deiner Meinung nach immer noch verändert?“
„Ja, es ist fast sogar noch etwas schlimmer geworden“, sage ich und stehe auf. „Ich kann dieses leise Weinen darin hören, ein schwaches Jammern.“ Ein Schauer durchzuckt mich. „Es ist fast schon gruselig.“
Chris kommt an meine Seite und zusammen blicken wir zwischen den Bäumen hindurch runter zum See. Er hat eine tiefdunkle Farbe und ist beinahe schwarz. Wenn ich auf die still daliegende Wasserfläche sehe, höre ich dieses leise Weinen unbekannten Ursprungs. Es ist so leise, dass ich noch nicht einmal ausmachen kann, ob es von einer männlichen oder weiblichen Stimme stammt.
„Was hast du vor? Willst du wieder runter zum See und nachschauen?“, will er wissen und legt den Arm um meine Hüfte.
Ich lehne den Kopf an seinen Brustkorb und atme seinen beruhigenden Duft ein. „Ja, aber zuerst muss ich wieder ins Büro. Danach fahre ich bei Carmen vorbei, vielleicht hat sie Zeit und wir können uns wegen gestern Abend unterhalten. Und dann schaue ich mir noch einmal den See an.“
„Hey, ich hatte gestern schon mal angerufen und auf den AB gesprochen“, zitiert das Band des Anrufbeantworters im geheimen Parapsychologen-Büro. Die Aufnahme ist schwer zu verstehen, die Stimme wirkt abgehackt und wird immer wieder von Rauschen durchbrochen. „Ich weiß nicht, ob Sie uns helfen können, aber… Hey, lass das!“ Es raschelt und ich höre gemurmelte Worte im Hintergrund. „Gib mir das Handy wieder!“ Und damit endet die Aufnahme.
Ich denke mir nicht viel dabei und klicke mich weiter zum nächsten Anrufer und mache mir meine Notizen. Danach setze ich mich mit den Auftragszetteln in der Handtasche in den Bulli und fahre zum Booh. Ich parke neben Jasons Wagen und steige aus. Es ist nicht selten, dass er schon früh am Morgen im Booh ist. Soweit ich weiß, wohnt er allein in einer kleinen Wohnung und ist nicht gerade der beste Koch, weswegen er gerne zum Frühstuck ins Booh geht. Manchmal erledigt er dann gleich noch einige Recherchen für unsere Leute.
Als ich die gemütliche Kneipe betrete, sehe ich Jason alleine am Tresen sitzen. Er trägt seine Lieblingshose aus rostrotem Cord, dazu ein muffiges Jackett aus grünem Filz mit karierten Flicken an den Ellenbogen, was mir viel zu warm für das Wetter erscheint. Sein Haar ist wieder etwas länger geworden. Er hat es sich stramm hinters Ohr geklemmt und ist ganz vertieft in sein Tablet. Daneben steht eine kleine Schüssel Rührei und ein Teller mit einer halben Scheibe Buttertoast.
„Hey Jason!“, begrüße ich ihn und setze mich neben ihn.
„Hey Scar“, antwortet er ohne Aufzusehen.
Ich sortiere meine neuen Auftragszettel in den Korb vor mir und schaue nach, welche Aufträge noch nicht abgearbeitet sind. Die verschlossenen Briefumschläge mit den fertigen Berichten stecke ich ein. Einmal im Monat berechne ich Fahrtkosten, Verpflegung und Aufwand und schicke Rechnungen an die Kunden, falls meine Leute dies noch nicht vor Ort selbst geregelt haben. Als ich fertig bin, schiebe ich den Korb zurück auf die Tresenecke und sehe Jason an. Er ist ungewöhnlich still heute Morgen.
„Darf ich dir etwas bringen, Scar?“, fragt Olivia mit ihrer rauchigen Stimme und legt die Hand vor mir auf den Tresen.
„Einen Marmeladentoast und einen Milchkaffee, bitte“, antworte ich lächelnd.
Eigentlich wollte ich ja so schnell wie möglich zu Carmen, doch nun merke ich, dass ich mich insgeheim davor drücke und Jasons Schweigsamkeit als Ausrede benutze.
Ich lehne mich näher zu ihm heran. Er schiebt sich eine Gabel voll Rührei in den Mund, wobei die Hälfte wieder zurück in die Schüssel fällt. „Jason, ist alles okay?“
„Hmm“, macht er und nimmt mich offenbar zum ersten Mal heute richtig wahr. „Ja, ja, alles klar.“
„Was liest du da?“, hake ich nach und schiele zu seinem Tablet.
Er schiebt das Gerät näher zu mir und scrollt nach oben. Es ist ein Zeitungsartikel. „Das ist ein Artikel über einen vermissten Jungen. Er wird seit Montagnacht vermisst. Ich kenne seinen großen Bruder, wir waren zusammen in einer Klasse.“
„Marcus Daim vermisst“, lese ich leise und schaue mir das Bild von dem Jungen an. Er sieht durchschnittlich, wenn nicht sogar unscheinbar aus. Auf dem Foto, was sicherlich von einem Schulfotograf geschossen wurde, trägt er einen dunkelblauen Kapuzenpullover. Er wirkt schlank, hat ein schmales Gesicht und kurze blonde Haare, die er mit Gel stachelig nach oben frisiert hat. Sein Lächeln wirkt ehrlich und fröhlich, präsentiert ein paar schiefstehende Frontzähne. Die Augen sind hellblau, mit hellen Wimpern umrandet, und auf seiner Nase sind ein paar Sommersprossen zu sehen.
„Laut dem Artikel wurde er Montag abend zum letzten Mal von seiner Mutter gesehen. Er wollte sich mit ein paar Kumpels treffen, kam aber nicht wieder nach Hause. Am nächsten Morgen hat seine Mutter sein leeres Zimmer bemerkt und ihn gleich als vermisst gemeldet“, fasst Jason für mich den Artikel zusammen.
Ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen. „Wieso hat sie sein Fehlen erst am nächsten Morgen bemerkt?“
„Es