Katja Pelzer
Greta und das Wunder von Gent
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Der Mann saß im Rollstuhl an einer sonnigen Ecke der Innenstadt und verkaufte die Obdachlosenzeitung. Greta hielt sich mit der einen Hand eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht und holte mit der anderen ihr Portemonnaie aus der gemusterten Umhängetasche, die in Modekreisen Tote genannt wurde (ja, wie die Tote, aber englisch ausgesprochen), bezahlte die Zeitung und ließ ihm 40 Cent Trinkgeld. Sie hoffte, es würde ihn weder zum Trinken animieren noch zum Rauchen. Denn in seinem zahnlosen Mund steckte verloren ein Zigarettenstummel. Den nahm er jetzt heraus und küsste ihren Handrücken zum Dank für den Obolus. Diese Geste freute Greta, machte sie aber auch leicht verlegen. Sie winkte dem Mann noch einmal zu und setzte dann beschwingt den Weg in die Zeitungsredaktion fort, wo sie seit ein paar Jahren als Kulturredakteurin arbeitete.
Der Anruf erreichte sie am frühen Nachmittag. Der Tag war auch weiterhin freundlich und harmlos verlaufen, daher war sie auch überhaupt nicht auf das vorbereitet, was ihr die Pflegerin mitzuteilen hatte. Großtante Mia war gestorben. Ganz leise, im Schlaf.
Greta war ihr Liebling gewesen, die Großtante hatte selbst keine Kinder gehabt. Stolze 95 Jahre war sie alt geworden. Manchmal hatte sie der ebenfalls kinderlosen Greta erklärt, das hohe Alter habe sie allein der Tatsache zu verdanken, dass ihr all die Sorgen und der Verdruss erspart geblieben waren, die Elternschaft unweigerlich mit sich brachte. Greta lächelte unter Tränen, als sie an die Worte der Großtante dachte, in deren Augen immer kindliche Freude geblitzt hatte.
Das Leben um sie herum hielt nicht an, stellte Greta verwundert fest. Natürlich war es wichtig, welche Galerien sie am Eröffnungswochenende besuchen müsste, aber die meisten Sonntage der vergangenen Jahre hatte Greta am Kaffeetisch ihrer Großtante verbracht. Das war beiden von dem geblieben, was Familie sein konnte.
Sie hatte ihrer Großtante die Fingernägel geschnitten, die diese zuvor in warmem Seifenwasser gebadet hatte, um sie weicher zu machen. Sie wusch ihr die Wäsche und faltete sie, weil die Hände der Tante arthritisch geschwollen waren. Die Batterie im Hörgerät musste alle paar Wochen gewechselt werden. Mit hundert Strichen bürstete Greta durch die langen silberweißen Wellen der Großtante – ein Ritual, zu dem Mia als Mädchen übergegangen war und auf das sie bis zu ihrem Tod nicht verzichten mochte. Eine Gewohnheit, für die Greta ihre Tante immer bewundert hatte.
Sie ging mit ihrem Haar weniger pfleglich um. Als Kind hatte sie es so selten gebürstet, dass der Friseur eines Tages die entstandenen Knoten hatte abschneiden müssen. So musste Greta mit sieben Jahren einen Pottschnitt tragen, der bei ihr ein Friseur-Trauma hinterließ.
Während der Rituale mit Großtante Mia hatte der gefrorene Kirschkuchen zum Auftauen auf der Heizung gestanden. Greta hatte das kochende Wasser in den von Mia vorbereiteten Kaffeefilter fließen lassen. Sie hatte hier ein wenig gesaugt, dort ein wenig geputzt. Aber nur ein wenig, denn eigentlich hatte Tante Mia eine Hilfe – eine hübsche polnische Studentin, die sich auf diese Weise das Geld fürs Studium verdiente. Greta hatte Mia meistens etwas zum Lesen mitgebracht, denn die Großtante verschlang Bücher wie andere Schokolade. Wenn sie schließlich am Kaffeetisch saßen, hatten sie sich immer etwas zu erzählen gehabt und viel gelacht.
Wieder ein Abschied. Zu viele hatte es schon gegeben in Gretas Leben. Dabei hasste sie Abschiede. Sie war jetzt die Letzte – ihre Großmutter Lisabeth, Mias Schwester, und der Großvater lebten schon lange nicht mehr. Die Eltern ihrer Mutter waren ebenfalls tot. Gretas Eltern waren beide Einzelkinder gewesen und selbst schon vor einigen Jahren gestorben. Nur Nick gab es noch – Gretas Bruder.