Destiny blätterte einige Male hin und her.
"Hmm … ich habe hier nichts … oder doch. Bist du Tias Freundin?"
"Ja. Sie hat einen Termin für mich ausgemacht."
"Ah super. Die Tätowierung für elf Uhr also."
Der Mann seufzte. "Schade. Ich hatte mich schon fast gefreut heute noch ein bisschen Arbeit zu bekommen."
Kyle legte den Kopf schief. "Sind Sie kein Tätowierer?"
Gleich darauf zuckte sie innerlich zusammen. Wie kam sie nur dazu, einem wildfremden Mann eine Frage zu stellen?
"Nein. Ich pierce nur. Wenn Sie also lieber ein Piercing als Farbe unter die Haut wollen, sind Sie bei mir richtig", sagte er zwinkernd.
Kyle schüttelte stumm den Kopf. Der Mann wollte gerade noch etwas sagen, als die Tür zum Nebenraum heftig aufflog.
Ein ziemlich genervt aussehender Albtraum von einem Mann kam gefolgt von einer blonden Frau heraus.
Er war groß. Bestimmt 1,90 Meter. Sein Rücken war beinahe so breit wie die Tür. Die Arme in dem viel zu engen Shirt sahen eher aus wie Oberschenkel und waren über und über mit Tätowierungen bedeckt.
"Das macht 300 Dollar. Destiny, sie braucht einen 30-Minuten-Termin zum Nachstechen in zwei Wochen", brummte er und stapfte dann durch eine Tür am anderen Ende des Raumes.
Während die junge, glücklich wirkende Frau ihre Rechnung beglich, wandte Kyle sich langsam der Tür zu. Sie hatte sich dafür entschieden, besser kein Tattoo von Mr. Stiernacken zu wollen.
"Woher kennen Sie Tia?", fragte der andere Mann und lächelte freundlich.
Sie konnte ihm ja schlecht nicht antworten und einfach davonrennen … oder?
"Freunde." Naja, viel ausgefeilter war diese Antwort zwar nicht, aber ihr Gehirn war voll und ganz mit ihrem Fluchtplan beschäftigt.
In diesem Moment drückte sich die junge Frau an ihr vorbei und ging fröhlich pfeifend zu ihrem Wagen.
Immerhin scheint er seine Arbeit gut zu machen …, dachte sie und sah der Frau hinterher.
Natürlich machte er seine Arbeit gut, sonst hätte Tia ihn ihr nicht empfohlen!
"Ich schwöre, wenn ich diese Woche noch einen einzigen beschissenen Delfin tätowieren muss, mach ich den Laden dicht!", brummte Mr. Stiernacken, als er zurück in den Raum kam.
"Das kannst du nicht, es ist auch mein Laden und ich bin mir sicher, dass deine nächste Kundin hier keinen Delfin will. Stimmt doch, Kyle, oder?", fragte der Mann gut gelaunt.
Mr. Stiernacken drehte sich zu ihr um und erstarrte. Er sah sie einen Moment lang mit großen Augen an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Vor ihrem inneren Auge spielten sich Bilder ab, wie sie wie Road-Runner beschleunigte und zu ihrem kleinen Ford rannte.
"Kyle! Wie schön dich hier zu sehen!", sagte er und hörte sich auf einmal gut gelaunt an.
Sie stutzte einen Moment. Woher zum Teufel kannte er sie?
Mit langen Schritten kam er auf sie zu.
Automatisch wich sie schnell rückwärts aus, erst dann fiel ihr auf, dass sie sich damit von der Eingangstür weg bewegte.
Verdammt!
Dann bemerkte sie, dass er mitten in der Bewegung innegehalten hatte und sie ganz und gar nicht mehr lächelnd musterte.
"Alles okay. Komm erst mal mit, dann können wir dein Tattoo besprechen", sagte er ruhig und deutete auf den Raum, aus dem er ursprünglich gekommen war.
Mittlerweile war es beinahe unheimlich ruhig im Raum. Alle Blicke lagen auf ihr, was ihr fast noch unangenehmer war als Mr. Stiernacken gegenüberzutreten.
Kurz wägte sie ab und erinnerte sich selbst daran, dass Tia und Destiny den Mann kannten. Wenn sie nicht alles täuschte, gehörte er zu Fire&Ice, von denen Julie immer behauptete, man könnte ihnen vertrauen.
Vertrauen!, höhnte ihre innere Stimme.
Kyle beschloss, diese zu ignorieren, und ging um das Sofa herum auf den Raum zu. Stiernacken folgte ihr. Seine Präsenz in ihrem Rücken war geradezu greifbar.
Sie stellte sich hinter eine blaue Liege, die mitten im Raum stand.
Auch er betrat das Zimmer, hielt dann mit der Klinke in der Hand inne. "Ich werde sie offen lassen, wenn es für dich okay ist?"
Kyle nickte. So viel Feingefühl hätte sie dem Muskelberg nicht zugetraut, aber sie fühlte sich tatsächlich besser, wenn Destiny noch in Sichtweite war.
Er setzte sich auf einen kleinen, schwarzen Hocker mit Rollen, wirkte aber im Sitzen nicht wesentlich weniger bedrohlich.
Reiß dich zusammen, Kyle!
"Okay, nochmal von vorn", sagte er und lächelte sanft. "Ich bin Joey. Du hast einen Beratungstermin mit mir, stimmts?"
Kyle nickte. Sie musste sich einfach nur anhören, was er zu sagen hatte, danach konnte sie wieder von hier verschwinden.
Kein Problem!
"Wo möchtest du dein Tattoo?"
"Beide Unterarme, Innenseiten."
"Gut. Nicht gerade klein. Da solltest du dir sicher sein", sagte er und lächelte schief.
"Ich will mich nur informieren."
"Schon über das Motiv nachgedacht?" Sie dachte an die Kopie einer Zeichnung von einer bunten Blumenwiese, die sie dabei hatte, war sich aber nicht sicher, ob sie sie Joey zeigen wollte.
"Die eine Seite, die rechte, soll voll schwarzer Tribals sein."
Joey nickte. "Die zweite?"
Sie zögerte. "Eine Zeichnung in Farbe."
"Kann ich sie sehen? Ich brauche sie, um den Aufwand abschätzen zu können."
Sie konnte sich zumindest mal einen Preis sagen lassen.
Also holte sie die Kopie hervor und legte sie auf die Liege.
Joey runzelte die Stirn. "Eine Kinderzeichnung als Tattoo?"
Kyle nickte.
"Von ihrem?"
"Von Ethan", sagte sie schnell.
"Julies Sohn?"
"Ja."
Er drehte und wendete das Papier ein paar Mal, ehe er die Stirn runzelte.
"Kann ich mir deinen Arm einmal ansehen? Ich denke wir werden die Zeichnung ein wenig zuschneiden oder verkleinern müssen, sonst bekommen wir sie nicht schön auf den Arm."
"Verkleinern ja, zuschneiden nein."
"Okay. Also deinen Arm bitte. Am besten setzt du dich auf den Hocker und legst ihn auf die Liege."
Einen Moment zögerte sie und schielte noch einmal zu Destiny, dann zog sie den zweiten Hocker heran und legte den Arm auf die Liege.
Joey rollte näher, griff so federleicht wie sie es niemals von so einem Muskelpaket erwartet hätte nach ihrem Arm und schob dann die weite Bluse nach oben.
Die Berührung seiner rauen Finger ließ ihre Haut kribbeln. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, aber sie war sich nicht sicher, ob aus Angst oder … oder was?
"Innenseite?", fragte er ruhig und noch bevor sie antworten oder reagieren konnte hatte er ihre Hand bereits gedreht.
Sie spürte den Moment, in dem er die lange, senkrechte Narbe sah, die sie mit den Tätowierungen überdecken wollte.
Dann wurde sein Griff plötzlich fester. "Verdammt!", knurrte er.
Kyle zerrte