Celia, die ein wenig zurückgeblieben war, trat jetzt, als sie sah, daß Casaubon sich entfernt hatte, rasch heran, und sagte in ihrer ruhig abgemessenen Weise, mit welcher sie immer gegen jeden Verdacht einer maliziösen Absicht zu protestieren schien:
»Weißt Du, Dorothea, ich habe eben einen ganz jungen Menschen auf einem der Gartenwege gehen sehen.«
»Was ist denn daran Merkwürdiges, Celia.«
»Vielleicht ist es ein junger Gärtner, weißt Du, warum nicht?« bemerkte Herr Brooke. »Ich habe Casaubon schon gesagt, er solle sich einen andern Gärtner nehmen.«
»Nein, kein Gärtner,« erwiderte Celia; »ein Herr mit einem Skizzenbuch. Er hatte helle, braune Locken, ich habe ihn nur von rückwärts gesehen. Aber er war ganz jung.«
»Vielleicht der Sohn des Vikars,« sagte Herr Brooke. »Ah, da ist Casaubon wieder, und Tucker mit ihm. Er wird uns Tucker vorstellen, den Ihr ja noch nicht kennt.«
Der Vikar, Herr Tucker, war ein Mann von mittleren Jahren, einer von der »niederen Geistlichkeit,« deren Mitglieder keinen Mangel an Söhnen zu haben pflegen. Aber die Unterhaltung, welche sich nach seiner Vorstellung entspann, führte zu keiner Frage in Betreff seiner Familie, und die auffallende jugendliche Erscheinung wurde alsbald von Allen außer von Celien wieder vergessen. Sie sträubte sich innerlich gegen die Annahme, daß die hellen, braunen Locken und die schlanke Gestalt in irgend einer verwandtschaftlichen Beziehung zu Herrn Tucker stehen könnten, der ganz so alt und verbraucht aussah, wie sie sich Casaubons Vikar vorgestellt hatte, der gewiß ein vortrefflicher Mann war und ohne Zweifel in den Himmel kommen würde, – denn Celia wollte keinen frivolen Gedanken, in sich aufkommen lassen –, dessen Mundwinkel ihr aber so sehr mißfielen. Celia dachte mit Unbehagen an die Zeit, welche sie als Brautjungfer in Lowick zuzubringen haben würde, wo es gewiß keine Vikarskinder gebe, mit denen sie sich ergötzen könnte.
Herr Tucker war von unschätzbarem Wert als Begleiter auf ihrem Spaziergange; und vielleicht hatte Casaubon das voraus bedacht, da der Vikar im Stande war, alle Fragen Dorotheens in Betreff der Dorfinsassen und der übrigen Kirchspielsbewohner zu beantworten. Jedermann in Lowick, versicherte er sie, sei in ganz guten Verhältnissen; in jenen billig vermieteten Doppelhäuschen sei kein Bewohner, der nicht sein eigenes Schwein habe, und die Streifen Gartenlandes hinter den Häuschen seien gut gepflegt. Die kleinen Jungen trügen Zeug von vortrefflichem schwerem Wollstoff, die Mädchen wären als sehr ordentliche Dienstmädchen gesucht, oder beschäftigten sich zu Hause mit Strohflechten. Hier finde man keine Webstühle und keine Dissenters, und obgleich im Allgemeinen die Neigung zum Gelderwerb größer sei, als der Sinn für kirchliche Dinge, so kämen doch nicht viele Verbrechen vor.
Auf ihrem Wege sahen sie so viele gesprenkelte Hühner, daß Herr Brooke bemerkte:
»Ihre Pächter lassen etwas Gerste zur Nachlese für die Frauen im Dorfe über, wie ich sehe. Die armen Leute hier scheinen wirklich Sonntags ihr Huhn im Topfe zu haben, wie es der gute französische König für sein ganzes Volk wünschte. Die Franzosen essen sehr viele Hühner – magere Hühner, wissen Sie.«
»Mir scheint der Wunsch des Königs war sehr billig,« sagte Dorothea entrüstet. »Sind denn die Könige solche Ungeheuer, daß ein solcher Wunsch als ein Beweis königlicher Tugend aufgezeichnet wird?«
»Und wenn er ihnen ein mageres Huhn wünschte,« bemerkte Celia, »so wäre das doch keine angemessene Speise. Aber vielleicht wünschte er, sie sollten fette Hühner haben.«
»Ja, aber dieses Wort ist im Texte ausgelassen, oder war vielleicht subauditum; das will sagen: von dem Könige gemeint, aber nicht ausgesprochen,« erklärte Casaubon, indem er lächelnd den Kopf zu Celia hinneigte, welche sofort ein wenig zurücktrat, weil es ihr unerträglich war, wenn Casaubon sie anblinzelte.
Dorothea wurde auf dem Rückwege nach dem Hause ganz schweigsam. Sie empfand eine gewisse Enttäuschung, deren sie sich gleichwohl schämte, darüber, daß in Lowick nichts für sie zu tun sei, und malte sich aus, wie sie es vorgezogen haben würde, ihre neue Heimat in einem Kirchspiele zu finden, in welchem größeres Elend geherrscht hätte, so daß sie in demselben mehr Gelegenheit zu tätiger Pflichterfüllung gefunden hätte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Zukunft zu und beruhigte sich in dem Gedanken, daß sie sich noch vollständiger den Zwecken Casaubons zu widmen und damit neue Pflichten zu übernehmen haben werde. Viele solche Pflichten würden sich ihr vielleicht erst nach Erlangung der höheren Erkenntnis offenbaren, welche sie in dem Zusammenleben mit ihrem künftigen Gatten gewinnen würde.
Herr Tucker verließ die Gesellschaft bald wieder, da ihm einige Amtsgeschäfte oblagen, welche es ihm nicht gestatteten, bei Casaubon zu frühstücken. Als sie durch das kleine Gitter wieder in den Garten traten, sagte Casaubon:
»Du siehst etwas traurig aus, Dorothea. Ich hoffe, Du bist befriedigt von dem, was Du eben gesehen hast.«
»Mich bewegt etwas, was vielleicht närrisch und verkehrt ist,« antwortete Dorothea mit ihrer gewöhnlichen Offenheit, »ich wünschte beinahe, daß die Leute hier in einer Lage wären, in welcher man mehr für sie tun müßte. Ich habe bis jetzt so wenig Gelegenheit gehabt, mein Leben irgendwie nützlich zu machen, daß meine Begriffe von dem was nützlich ist, daher natürlich beschränkt sind. Ich muß neue Mittel kennen lernen, mich hilfreich zu erweisen.«
»Ohne Zweifel,« erwiderte Casaubon. »Jede Lage des Lebens bringt ihre entsprechenden Pflichten mit sich. Die Erfüllung Deiner Pflichten, als Herrin von Lowick, wird Dir hoffentlich kein Verlangen unerfüllt lassen.«
»Das hoffe ich zuversichtlich,« entgegnete Dorothea ernst. »Denke nicht, daß ich traurig bin.«
»Das ist gut. Wenn Du nicht ermüdet bist, wollen wir auf einem anderen Wege, als auf dem wir vorhin gegangen sind, nach Hause zurückkehren.«
Dorothea war durchaus nicht ermüdet, und man machte einen Umweg in der Richtung des schönen Eibenbaumes, welcher von Alters her die Hauptzierde des Gartens an dieser Seite des Hauses war. Als sie sich dem Baume näherten, wurde eine sitzende männliche Gestalt sichtbar, die sich von dem dunklen Hintergrunde des immergrünen Laubes abhob: Es war ein junger Mann, welcher den alten Baum skizzierte.
Herr Brooke, der mit Celien voranging, wandte sich um und sagte:
»Wer ist der junge Mensch, Casaubon?«
Sie waren dem Baume bereits sehr nahe gekommen als Casaubon antwortete:
»Das ist ein junger Verwandter von mir, ein Groß-Cousin, – der Enkel der Dame,« fügte er mit einem Blicke auf Dorothea hinzu, »deren Porträt Dir aufgefallen ist, meiner Tante Julie.«
Der junge Mann hatte sein Skizzenbuch bei Seite gelegt und war ausgestanden. Seine dichten, hellbraunen Locken und seine jugendliche Gestalt, ließen keinen Zweifel darüber, daß es derselbe junge Mann sei, welchen Celia vorhin aus der Entfernung gesehen hatte.
»Dorothea, erlaube mir Dir meinen Vetter Ladislaw vorzustellen, Will, das ist Fräulein Brooke.«
Der Vetter stand Dorotheen jetzt ganz nahe, und sie sah, als er seinen Hut abnahm, ein Paar graue, etwas dicht zusammenstehende Augen, eine feine unregelmäßige Nase mit einer kleinen Falte, und in den Nacken fallende Locken; Mund und Kinn dagegen traten mehr hervor und hatten einen herausfordernderen Ausdruck, als es bei dem Porträt der Großmutter der Fall war. Der junge Ladislaw schien es nicht für notwendig zu halten, verbindlich zu lächeln, als sei er entzückt über die Vorstellung seiner künftigen Cousine und ihrer Verwandten, sondern zeigte eher etwas von verdrossener Unzufriedenheit in seinen Mienen.
»Sie sind Künstler, wie ich sehe,« sagte Herr Brooke, indem er das Skizzenbuch in seiner ungenierten Weise in die Hand nahm und durchblätterte.
»Nein, ich skizziere nur ein wenig. In dem Skizzenbuch ist nichts des Ansehens Wertes,« erwiderte der junge Ladislaw, indem er vielleicht mehr aus übler Laune, als aus Bescheidenheit