haben –, überlegte er einen Augenblick, ob er sich die Vorstellung ansehen solle, ließ aber gleich darauf seinen
Entschluß wieder fallen. Was kümmerte es ihn, ob ein Neger zaubern konnte; Neugierde nach Ungewöhnlichem war
es nicht, das ihn umhertrieb und ruhelos machte. Etwas Unwägbares, Gestaltloses, das in der Luft lag, peitschte seine
Nerven auf, – derselbe rätselhafte Gifthauch, der ihn zuweilen, noch ehe er nach Holland gereist war, so heftig gewürgt
hatte, daß er in solchen Fällen unwillkürlich mit Selbstmordideen spielte.
Er überlegte, woher es diesmal wieder gekommen sein mochte. Ob es von den jüdischen Auswanderern, die er
gesehen hatte, wie eine Ansteckung auf ihn übergegangen war?
"Es muß der gleiche unbegreifliche Einfluß sein, der diese religiösen Fanatiker über die Erde jagt und mich aus
meiner Heimat vertrieben hat", fühlte er; "bloß unsere Motive sind verschieden."
Schon lange vor dem Kriege hatte er diesen unheimlichen seelischen Druck an sich erfahren, nur war es damals noch
möglich gewesen, ihn durch Arbeit oder Vergnügen zeitweilig zu unterdrücken; er hatte ihn als Reisefieber, als nervöse
Launenhaftigkeit, als Begleiterscheinung falscher Lebensführung gedeutet, dann später, als die Blutfahne über Europa
zu flattern begann: als Vorahnung der Ereignisse. Aber warum steigerte sich jetzt nach dem Kriege dieses Gefühl noch
von Tag zu Tag fast bis zur Verzweiflung? Und nicht nur bei ihm – fast jeder, mit dem er darüber gesprochen hatte,
wußte von sich selbst Ähnliches zu berichten.
Sie alle, wie er, hatten sich damit getröstet, wenn der Krieg beendet sei, werde der Frieden auch in den Herzen der
einzelnen wiederkehren. Statt dessen war genau das Gegenteil eingetreten.
Die banale Weisheit der gewissen Hohlköpfe, die gewohnheitsgemäß bei allem und jedem die billigste Erklärung zur
Hand haben und die Fieberschauer der Menschheit auf gestörte Behaglichkeit zurückführten, – konnte sie das Rätsel
lösen? Die Ursache lag tiefer.
Gespenster, riesenhafte, formlos und nur erkennbar an den entsetzlichen Verheerungen, die sie angerichtet, bei den
heimlichen Sitzungen kaltherziger, ehrgeiziger Greise um den grünen Tisch herum entstandene Gespenster hatten sich
Millionen von Opfern geholt und sich dann scheinbar wieder für einige Zeit schlafen gelegt; aber jetzt erhob das
grauenhafteste aller Phantome, längst schon zu lauerndem Leben erweckt durch den Fäulnishauch einer verwesenden
Scheinkultur, sein Medusenhaupt vollends aus dem Abgrund und höhnte der Menschheit ins Gesicht, daß es nur ein
Rad der Qual gewesen war, das sie im Kreise getrieben hatte im Wahn, dadurch für kommende Geschlechter die
Freiheit zu gewinnen, – und weiter treiben würde trotz Wissen und Erkenntnis für alle Zeiten.
In den letzten Wochen war es Hauberrisser scheinbar gelungen, sich über seinen Lebensüberdruß
hinwegzutäuschen; er hatte sich die sonderbare Idee zurechtgelegt, mitten in einer Stadt, die sozusagen über Nacht
infolge der Zeitläufte aus einem Weltmarkt mit gezügelter Leidenschaft zu einem internationalen Tummelplatz
hirnverwirrender, wilder Instinkte geworden war, als Einsiedler, als innerlich Unbeteiligter, zu leben, und hatte seinen
Plan auch bis zu einem gewissen Grade durchgeführt, doch jetzt brach die alte Müdigkeit, durch irgendeinen winzigen
Anlaß wiedererweckt, abermals hervor, stärker als je, verzehnfacht durch den Anblick der plan- und sinnlos um ihn
her durchs Dasein taumelnden Menge.
Als sei er bisher blind gewesen, erschreckte ihn plötzlich aufs tiefste der Ausdruck in den Gesichtern, die ihn
umwimmelten.
Das waren nicht mehr die Mienen von Menschen, die, vergnügungssüchtig oder, um die Sorgen des Tages zu
verschütten, zu einer Schaustellung eilten, wie sie von früher her in seiner Erinnerung lebten! Die beginnenden
Anzeichen eines unheilbaren Entwurzeltseins sprachen aus ihnen.
Der bloße Kampf ums Dasein gräbt andere Furchen und Linien in die Haut.
Er mußte an Kupferstiche denken, die die Pestorgien und Tänze des Mittelalters darstellten, und dann wieder an
Vogelschwärme, die, das Kommen eines Erdbebens spürend, lautlos und in dumpfer Angst über die Erde kreisen. – –
Wagen um Wagen raste zum Zirkus, und mit einer nervösen Hast, als ginge es um Leben und Tod, eilten die Leute
hinein: Damen, brillantenübersät, mit fein geschnittenen Gesichtern, zu Kokotten gewordene französische Baronessen,
vornehme, schlanke Engländerinnen, noch vor kurzem zur besten Gesellschaft gehörig, jetzt zu zweit am Arme
irgendeines über Nacht reich gewordenen Börsenhalunken mit Rattenaugen und Hyänenschnauze, – russische
Fürstinnen, jede Fiber an ihnen zuckend vor Übernächtigung und Überreiztheit; nirgends mehr auch nur eine Spur
ehemaliger aristokratischer Gelassenheit – alles hinweggespült von den Wellen einer geistigen Sintflut.
Wie das Vorzeichen einer kommenden furchtbaren Zeit erscholl im Innern des Hauses in Intervallen, bald
schreckhaft nahe und laut, dann wieder plötzlich erstickt von zufallenden dicken Vorhängen, das langgezogene heisere
Gebrüll von wilden Bestien, und ein beißender Geruch nach Raubtieratem, Parfüm, rohem Fleisch und Pferdeschweiß
wehte auf die Straße heraus.
Durch den Ideenkontrast wachgerufen, schob sich ein Bild aus der Erinnerung von Hauberrissers Blick: ein Bär
hinter den Käfigstäben einer wandernden Menagerie, der, die linke Tatze gefesselt, eine Verkörperung grenzenloser
Verzweiflung, von einem Bein aufs andere trat – unablässig, tagelang, monatelang, noch Jahre später, als er ihm wieder
auf einem Schaubudenmarkte begegnete.
"Warum hast du ihn damals nicht losgekauft!" schrie ein Gedanke Hauberrisser ins Hirn hinein, – ein Gedanke, den
er wohl hundertmal schon verjagt hatte, der aber immer wieder aus dem Hinterhalte auf ihn lossprang, immer mit
demselben brennenden Gewand des Vorwurfs angetan, wenn seine Stunde kam, – ewig jung und unversöhnlich wie
am ersten Tage, als er entstanden war, – ein Zwerg, scheinbar nichtig und klein gegenüber den riesengroßen
Versäumnissen, die im Leben eines Menschen einander die Hand reichen, und dennoch von allen Gedanken der
einzige, über den die Zeit keine Macht besaß.
"Die Schatten der Myriaden gemordeter und gefolterter Tiere haben uns verflucht, und ihr Blut brüllt nach Rache",
ballte sich eine wirre Vorstellung in Hauberrissers Gehirn einen Pulsschlag lang zusammen; "wehe uns Menschen, wenn
beim Jüngsten Gericht die Seele auch nur eines einzigen Pferdes im Rate der Ankläger sitzt. – Warum habe ich ihn
damals nicht losgekauft!" – – Wie oft hatte er sich schon die bittersten Vorwürfe deshalb gemacht und sie jedesmal mit
dem Argument erstickt, daß die Befreiung des Bären belangloser gewesen wäre als das Umdrehen eines Sandkorns in
der Wüste. Aber – er überflog im