Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustav Meyrink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742766250
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Gesicht; der linke Ärmel, leer bis

       zur Achsel, baumelte schlaff herab und ließ seine schmächtige hohe Gestalt noch schmaler erscheinen; das Monokel

       wie festgewachsen in der tiefen Knochenhöhle unter der Braue.

       Lauter Menschen ringsum, die der Spießer aller Völker instinktiv haßt wie der krummbeinige Dorfköter den

       hochgezogenen Rassehund, – Geschöpfe, die den breiten Massen immer ein Rätsel bleiben, ihr ein Gegenstand der

       Verachtung und des Neides zugleich sind, – Wesen, die in Blut waten können, ohne mit der Wimper zu zucken, und

       ohnmächtig werden, wenn eine Gabel auf dem Teller kreischt, – die wegen eines schiefen Blickes zur Pistole greifen

       und ruhig lächeln, wenn man sie beim Falschspielen ertappt, – die ein Laster alltäglich finden, vor dem der "Bürger"

       sich bekreuzigt, und lieber drei Tage dursten, als aus einem Glas trinken, das ein anderer benutzt hat, – die an den

       lieben Gott glauben wie an etwas Selbstverständliches, aber sich von ihm absondern, weil sie ihn für uninteressant

       halten, – die für hohl gelten bei solchen, die voll Plumpheit als Lack und Tünche zu durchschauen glauben, was in

       Wirklichkeit seit Geschlechtern zum wahren Wesenskern geworden ist, und doch weder hohl sind noch das Gegenteil,

       – Geschöpfe, die keine Seele mehr haben und deshalb der Inbegriff des Verabscheuungswürdigen sind für die Menge,

       die nie eine Seele haben wird, – Aristokraten, die lieber sterben als kriechen und mit unfehlbarem Spürsinn den

       Proleten in einem Menschen wittern, ihn tiefer stellen als ein Tier und unbegreiflicherweise vor ihm zusammenknicken,

       wenn er zufällig auf dem Thron sitzt, – Mächtige, die hilfloser werden können als ein Kind, wenn das Schicksal nur die

       Stirne runzelt, – – Werkzeuge des Teufels und sein Spielball zugleich.

       Ein unsichtbares Orchester hatte den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin beendet.

       Eine Glocke schrillte.

       Der Saal wurde still.

       An der Wand über der Bühne leuchteten in winzigen Glühbirnen Buchstaben auf:

       ! La Force d'Imagination !

       und ein französisch friseurhaft aussehender Herr in Smoking und weißen Handschuhen, mit schütterem Haar und

       Spitzbart, schlaffen, gelben Hängebacken, eine kleine rote Rosette im Knopfloch und tiefe Schatten um die Augen, trat

       aus dem Vorhang heraus, verbeugte sich und setzte sich stumm auf einen Sessel inmitten des Podiums.

       Hauberrisser nahm an, es werde irgendein mehr oder weniger zweideutiger Vortrag, wie man sie in den Kabaretts

       zu hören bekommt, folgen, und blickte ärgerlich weg, als der Darsteller – ob aus Verlegenheit, oder sollte ein ordinärer

       Witz daraus werden? – an seiner Toilette zu nesteln begann.

       Eine Minute verging, und noch immer herrschte lautlose Stille im Saal und auf der Bühne.

       Dann setzten gedämpft zwei Geigen im Orchester ein, und wie aus weiter Ferne blies schmachtend ein Waldhorn:

       "Behüt' dich Gott, es wär zu schön gewesen, behüt' dich Gott, es hat nicht sollen sein."

       Erstaunt nahm Hauberrisser seinen Operngucker und schaute auf die Bühne.

       Vor Entsetzen fiel ihm beinahe das Glas aus der Hand. Was war das! War er plötzlich wahnsinnig geworden? Kalter

       Schweiß trat ihm auf die Stirne – kein Zweifel, ja, er war wahnsinnig geworden! Unmöglich konnte das, was er sah, in

       Wirklichkeit auf dem Podium – hier vor Hunderten von Zuschauern, Damen und Herren der noch vor Monaten

       vornehmsten Kreise – stattfinden.

       Vielleicht in einer Hafenschenke am Nieuve Dyk oder als medizinisches Kuriosum in einem Hörsaal, aber hier?!

       Oder träumte er? War ein Wunder geschehen und der Zeiger der Zeit in die Epoche Ludwigs XV.

       zurückgesprungen? – – –

       Der Darsteller hielt beide Hände fest auf die Augen gepreßt wie jemand, der sich innerlich mit Aufgebot seiner

       ganzen Phantasie irgend etwas so lebhaft wie möglich vorzustellen wünscht – – –, erhob sich dann nach einigen

       Minuten. Verbeugte sich hastig. Und verschwand.

       Hauberrisser warf einen schnellen Blick auf die Damen an seinem Tisch und die Gesellschaft in der Nähe. Niemand

       verzog auch nur eine Miene.

       Nur eine russische Fürstin leistete sich die Ungeniertheit zu applaudieren.

       Als sei überhaupt nichts geschehen, ging man heiter plaudernd zur Tagesordnung über.

       Hauberrisser hatte die Empfindung, als säßen mit einemmal lauter Gespenster um ihn herum; er fuhr mit den Fingern

       über das Tischtuch und sog den mit Moschus durchtränkten Blütenduft ein: – das Gefühl der Unwirklichkeit steigerte

       sich in ihm nur noch bis zum tiefsten Grauen.

       Abermals schrillte die Glocke, und der Saal wurde dunkel.

       Hauberrisser benützte die Gelegenheit und ging.

       Draußen auf der Gasse schämte er sich beinah seiner Gemütsbewegung.

       Was war, im Grunde genommen, eigentlich so Schreckliches geschehen? fragte er sich. Nichts, was nicht weit

       schlimmer in ähnlicher Art nach längeren Zeitläufen in der Geschichte der Menschheit immer wiedergekehrt wäre: das

       Wegwerfen einer Maske, die nie etwas anderes bedeckt hatte als bewußte oder unbewußte Heuchelei, sich als

       Tugend gebärdende Temperamentlosigkeit oder in Mönchsgehirnen ausgebrütete asketische Ungeheuerlichkeiten! –

       Ein krankhaftes Gebilde, so kolossal, daß es schließlich einem zum Himmel ragenden Tempel geglichen, hatte ein paar

       Jahrhunderte lang Kultur vorgetäuscht; jetzt fiel es zusammen und legte den Moder bloß. War das Aufbrechen eines

       Geschwürs denn gräßlicher und nicht weit weniger furchtbar als sein beständiges Wachsen? Nur Kinder und Narren,

       die nicht wissen, daß die bunten Farben des Herbstes die Farben der Verwesung sind, jammern, wenn statt des

       erwarteten Frühlings der tödliche November kommt.

       Sosehr sich Hauberrisser auch bemühte, sein Gleichgewicht wiederzufinden, indem er kühles Erwägen an Stelle des

       vorschnellen Gefühlsurteils setzte: das Grauen wich den Argumenten nicht – blieb hartnäckig bestehen, so, wie der

       Stein, weil sein innerstes Leben die Schwere ist, sich nicht durch Worte verrücken läßt.

       Ganz allmählich, als flüstere es ihm eine Stimme in zögernden Sätzen silbenweise ins Ohr, wurde ihm nach und nach

       klar und verständlich, daß dieses Grauen nichts anderes war als wiederum dieselbe dumpfe, drosselnde Furcht vor

       etwas Unbestimmtem, die er schon so lange kannte – ein plötzliches Gewahrwerden unaufhaltsamen Hinabsausens der

       Menschheit in die Verderbnis.

       Daß heute einem Publikum als selbstverständliches Schauspiel erscheinen konnte, was gestern noch als Gipfel der

       Unmöglichkeit gegolten hätte, war das Atembeklemmende dabei, – dieses: "in rasenden Galopp verfallen" und "wie

       vor einem am Wege auftauchenden Gespenst scheu gewordene Ausbrechen" der sonst so geduldig schreitenden Zeit

       in die Dunkelheit geistiger Nacht hinein.

       Hauberrisser