Plötzlich hält ein Motorrad, eine schwarz-gelbe Enduro, direkt neben mir, der Fahrer schiebt sein dunkles Visier hoch. Überrascht bleibe ich stehen, mit beiden Füßen in einer großen Pfütze.
„Hallo, Becca. Du bist ja völlig durchnässt. Soll ich dich mitnehmen?“
Verwirrt trete ich etwas näher. Erst jetzt erkenne ich ihn. „Oh, hallo, Paul!“ Am liebsten würde ich sofort auf seine Maschine hüpfen, aber mein Anstand hält mich zurück. „Du hast ja gar keinen zweiten Helm dabei.“
Paul nimmt seinen eigenen ab und hält ihn mir hin. „Du kannst meinen haben.“ Der Helm ist schwarz mit weißen Streifen darauf und sieht echt cool aus.
„Dann hast du ja keinen mehr. Das kann ich nicht annehmen.“
Paul atmet tief aus. Seine Haare sind inzwischen schon ganz nass und kleine Wassertropfen hängen in seinen dichten Wimpern. Er hält mir immer noch den Helm hin. „Ich gebe dir zwei Möglichkeiten, Becca. Möglichkeit A: Du nimmst meinen Helm, setzt dich auf mein Motorrad und ich fahre dich nach Hause. Möglichkeit B: Ich setze dir meinen Helm auf, setze dich auf mein Motorrad und fahre dich nach Hause. Für welche entscheidest du dich?“ Seine Stimme hat einen warmen Unterton, aber lässt keinen Raum für Widerspruch.
Zögerlich und dankbar nehme ich den coolen Helm und sage: „Dann nehme ich Möglichkeit A.“
Paul lässt sein Motorrad wieder an, ein angenehmes, lautes Brummen ertönt. Wir fahren los. Ich rutsche dicht an ihn heran, umfasse seine Taille mit meinen Armen und lege meinen Kopf auf seinen Rücken. Es fühlt sich erstaunlich gut an, hinter ihm zu sitzen und ihn zu spüren.
Jetzt, auf den vertrauten Straßen, schweifen meine Gedanken ab. Verwirrt erinnere ich mich an das spöttische Funkeln um seine Mundwinkel, als Paul mich zum ersten Mal ansah, damals im Schulbus. Und ich erinnere mich, wie er mit einem Blick alle tuschelnden Stimmen zum Schweigen gebracht hat. Der Regen klatscht nass und grau auf mein Visier, die Sicht verschwimmt und ich fühle Dankbarkeit dafür, dass er mich damals völlig ohne Worte vor den anderen Kindern in Schutz genommen hat. Nur durch den Ausdruck seiner Augen.
Juli 1993
Der Saal ist elegant und modern zugleich. Er ist festlich geschmückt. Überall stehen große, runde Tische, weiße Tischdecken reichen bis zum Boden. Die Luftwaffe hat sich nicht lumpen lassen. Im Hintergrund spielt leise Pianomusik. Alle Offiziersanwärter tragen ihre blauen Ausgehuniformen. Die meisten Mädchen haben schwarze Abendkleider an. Mein Kleid ist schulterfrei, tailliert und mit einem dezenten Petticoat. Als einer der Ausbilder eine Rede über die Tugenden der Offiziere, ihre Wirkung nach außen und die ihnen bevorstehende noch härtere Jet-Ausbildung in den USA hält, stehen wir alle auf und Erik nimmt meine Hand und drückt sie ganz fest.
„Du siehst bezaubernd aus, Becca“, flüstert er in mein Ohr und löst einen Schauer in mir aus.
„Und du bist jetzt Offizier“, wispere ich zurück. Ich komme mir komisch vor in diesem Abendkleid. Es fühlt sich so offiziell an und außerdem trage ich nie Kleider. Heute gehört es einfach dazu.
Alle Absolventen beginnen den Ball mit einem Walzer. Es ist großartig, in dieser wogenden Masse zu schweben, ein Teil davon zu sein. Erik und ich schwingen über das Parkett, und obwohl er mir immer wieder versehentlich auf den Fuß steigt, lasse ich mir nichts anmerken.
Wir tanzen nur kurz. Dann bringt Erik mich an unseren Tisch zurück und rutscht einen Stuhl für mich zurecht. Dort sitzt auch eine junge Frau, die uns als Ann-Kathrin vorgestellt wird. Sie ist schlank und recht hübsch, wobei mich ihr Gesicht ein bisschen an das eines Windhundes erinnert. Ihre Haut ist leicht gebräunt, ihr Make up dezent, aber ihr Mund hat etwas Verbissenes an sich. Mir fällt auf, dass sie ihren Freund anschmachtet wie ein kleines Kind, das vor einem Zuckerbäcker steht, ihr Freund allerdings nur dann und wann ein Lächeln für sie übrig hat. Als nach einiger Zeit alle Offiziersanwärter unseres Tisches die Damen für einen Besuch an der Bar allein lassen, fragt sie mich direkt: „Warum liebst du Erik?“
„Wie bitte? Wie meinst du das?“ Sie ist mir unsympathisch und ich wünsche mir, Erik würde sofort zurückkommen.
Sie lehnt sich vor und sagt: „Ich finde es toll, dass Tom Jetpilot wird. Ich wollte schon immer mit einem Piloten zusammen sein. Das hat so etwas Heldenhaftes, findest du nicht?“
Jetzt bin ich vollkommen sprachlos. Das kann nicht ihr Ernst sein!
„Findest du es nicht klasse, einen Piloten als Freund zu haben?“
„Äh, also … ich … äh … noch ist er ja kein Pilot, sondern Offiziersanwärter. Keine Ahnung … als Pilot wird er viel unterwegs sein. Ich bleibe allein zurück. Er muss nach Italien, in die USA oder nach Kanada. Das macht mir Sorgen. Abgesehen davon, ist Kampfjetfliegen gefährlich.“
Abschätzig blickt Ann-Kathrin auf mich herab. Sie ist sogar im Sitzen mindestens fünf Zentimeter größer als ich. „Das ist doch kein Problem. Du kommst eben mit und lebst dort, wo er stationiert ist.“
„Aber ich möchte studieren, da kann ich nicht einfach umherreisen. Ich muss lernen und Klausuren schreiben.“
Ihr Blick wird noch abwertender und sie fächert sich mit ihrer Serviette demonstrativ gelangweilt Luft zu.
„Schätzchen, wenn du mit einem Piloten zusammen bist, brauchst du keinen eigenen Beruf. Er verdient genug für euch beide.“
Nun werde ich ungehalten. „Es geht doch nicht ums Geld. Ich möchte einen eigenen Beruf haben. Wofür mache ich denn mein Abitur?“
„Was willst du denn studieren?“, bohrt sie nach.
Eine Frage, mit der mich meine Eltern neuerdings auch immer nerven. „Das weiß ich jetzt noch nicht. Vielleicht Lehramt?“
Ihr Blick bleibt weiterhin herablassend an mir und meinem Kleid hängen. Ihres war natürlich auch schwarz. Plötzlich schlingt Erik beide Arme von hinten um mich. Erleichtert drehe ich meinen Kopf zu ihm. Endlich! Er strahlt mich an und augenblicklich durchflutet Wärme meinen ganzen Körper. Tom setzt sich neben Ann-Kathrin und tätschelt ihr beiläufig die Hand. Sie starrt verbissen nach vorn. Erik fordert mich auf: „Lass uns noch einmal tanzen!“
Als ich aufstehe und seine Hand ergreife, spüre ich ihren eiskalten Blick in meinem Rücken. Ich seufze leise und wünsche mir für einen kurzen Augenblick, Erik hätte den Wehrdienst verweigert, anstatt mit vollen Segeln seine gesamte Zukunft diesem uniformierten Verein zu schenken. Lieber Gott, wird das alles gut gehen? Mit uns?
Juli 1994
„Weißt du, was ich wirklich fantastisch finde?“, fragt Erik und lässt sich schwungvoll auf sein Sofa fallen. Wir sind zur Abwechslung bei seinen Eltern. Es ist schön, hier zu sein. Nach all den Jahren ist es wie ein zweites Zuhause für mich geworden und ich besitze sogar einen eigenen Hausschlüssel.
„Verrate es mir.“
„Dass ich nicht nur eine Freundin habe, die total süß aussieht, sondern eine Freundin, die in wenigen Tagen ihr Abiturzeugnis bekommt.“
„Was?“, kommentiere ich gespielt geschockt, „du hast zwei Frauen?“ Jetzt müssen wir beide laut lachen und ich lasse mich auf seinen Schoß fallen.
„Stell dir vor“, schmunzele ich verschwörerisch, „ich habe einen Freund, der verdammt gut aussieht, und einen, der gerade Jetpilot wird.“
Erik sieht mich nickend mit einem bedeutungsschweren Blick an und grinst schelmisch. „Dann würde ich sagen, passen wir perfekt zusammen.“
„Ja, das könnte sein, wenn du auch so gut bist wie er. Er hat gerade das harte Screening in Phoenix überstanden. Viele sind ausgeschieden. Viele, von denen er gedacht