Erik lehnt mit dem Rücken an meinem Kleiderschrank und hat die Arme locker verschränkt. Ein belustigter Zug auf seinem Gesicht sagt mir, dass er meine Sorge bezüglich Papa überhaupt nicht teilt.
„Punkt 1 ist richtig. Ich habe seine Tochter verführt und es war der Wahnsinn! Sie endlich voll zu spüren und ihr Laute zu entlocken, die ich bei ihr noch nie gehört habe, bringen mich fast auf die Idee es gleich wieder zu tun, wenn ich nicht gerade Bärenhunger hätte. Und Punkt 2, das Frühstück … tja, daran arbeite ich gerade.“
Wie kann man nur so frech sein? OK, bitte schön! Ich hole tief Luft und atme aus. „Also gut, du hast gewonnen. Wir gehen gemeinsam in die Küche. Sie werden wissen, dass du hier übernachtet hast und werden sonst was denken. Ich habe jetzt schon weiche Knie!“
„Genau so machen wir es. Sie wissen sowieso, dass ich die ganze Nacht hier bin, also kann ich auch gleich mit frühstücken. Vielleicht hole ich beim nächsten Mal sogar Semmeln und Brezen?“ Erik nimmt meine Hand fest in seine und gemeinsam gehen wir Richtung Küche. Ich hole noch mal tief Luft und dann öffnet Erik die Tür. Er hat überhaupt keine Angst. Im Gegenteil, er sieht fast so aus, als hätte er ein schelmisches Grinsen im Gesicht.
Einen Moment lang herrscht entsetzliches Schweigen. Mein Papa fixiert uns beide stumm, danach nur Erik. Mein Herz klopft so sehr, dass ich Angst habe, es könnte aus meinem Hals heraushüpfen und nie mehr zurückkehren. Mit den Augen hat Papa Erik brutal erdolcht. Ich kann das Blut beinahe in großen Fontänen an unsere Küchenwand spritzen sehen.
Erik bleibt cool, unbekümmert und gelassen. Sein „Guten Morgen“ klingt lässig, charmant und selbstbewusst. Mama springt auf und rettet die Situation. Das Rutschen ihres Küchenstuhls durchdringt als einziges Geräusch die lähmende Stille.
„Also, dann lege ich noch ein Gedeck hin. Setzt euch doch. Es ist genug da.“
Und dann geschieht ein Wunder! Papa zuckt kurz mit den Mundwinkeln, schiebt einen Stuhl für Erik zurecht und knurrt mit dem Hauch eines Lächelns in seinen Mundwinkeln: „Buon giorno.“
August 1992
„Becca?“ Erik zupft mir zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Ja, Erik?“
„Ich möchte mit dir schlafen.“ Sein Blick ist intensiv und glühend.
„Hier? Wirklich?“ Meinst du das ernst! Wir sind an einem öffentlichen Baggersee. Dem kleinen Waldsee bei Langenhof.
„Es ist perfekt hier, nur du und ich, der See und die Felder und die Vögel. Es ist spät, die Sonne geht schon fast unter. Die letzten Leute sind gerade weggefahren.“
„Eben, es ist ein öffentlicher See. Wenn doch noch jemand kommt?“ Wir liegen auf dem Kies und beobachten die letzten verstohlenen Sonnenstrahlen. Die Blätter rascheln sanft im lauen Wind. Unser erstes Mal ist noch gar nicht lange her, es war die totale Katastrophe! Wir waren beide furchtbar verkrampft und nervös, unsere Hände zitterten. Ich schüttele diese unangenehme Erinnerung ab. Unser zweites Mal war dafür himmlisch! Ein wohliges Schauern durchfährt mich, wenn ich daran denke, wie er plötzlich hinter mir stand. Trotzdem zögere ich. „Ich weiß nicht, Erik, man könnte uns sehen, meinst du nicht? So etwas haben wir noch nie gemacht.“
„Stimmt. Aber der See liegt inmitten von vielen Feldern, nur ein alter Feldweg führt hierher. Und wir sind allein. Jetzt kommt niemand mehr. Nur du und ich. Ich beschütze dich“, sagt er und grinst mich teuflisch an.
„Wovor? Vor dir?“ Lachend kneife ich ihm in den Oberarm, was er sich natürlich nicht gefallen lässt. Ich laufe weg, so schnell ich kann. Er springt auf und jagt mir hinterher. Wir müssen beide lachen, immer wieder. Nach ein paar atemlosen Runden um die leere Liegewiese hat er mich gefangen. Es war herrlich, albern und schön. Erik trägt mich auf Händen und schreitet würdevoll langsam zum Wasser. Ich lasse es geschehen. Einfach so. Wir sind allein.
„Becca Santini. Bekennen Sie sich schuldig, mich tätlich angegriffen zu haben?“ Er macht ein gespielt ernstes Soldatengesicht und ich spüre seine kräftigen Arme an meinem Körper.
„Niemals! Das war eine Provokation Ihrerseits, jawohl!“
Kopfschüttelnd watet Erik mit mir ins Wasser. Ich fürchte die Kälte, aber es ist warm, viel wärmer als gedacht, und bald umgibt uns nur noch die untergehende Sonne und der See.
„Becca Santini, Ihre Schuld ist unabwendbar. Sie werden dazu verurteilt, sich mir völlig zu unterwerfen.“
„Sie sind ein Tyrann. Das hätten Sie wohl gerne!“, schimpfe ich lachend. Er hebt mein Kinn, küsst mich lange und trägt mich weiter ins Wasser hinein.
„Ja, das hätte ich gerne. Sehr gerne sogar.“
„Warum liebst du mich?“, frage ich ihn flüsternd. Das Wasser berührt nun unsere Schultern und fühlt sich weich und warm an, irgendwie beschützend.
„Oh, das würdest du wohl gerne wissen, aber das ist top secret. Wenn ich dir das verrate, müsste ich dich hinterher töten”, antwortet er augenzwinkernd.
„Oh Erik, du bist einfach verrückt.“ Wir lachen beide laut und sind bald bis zu den Köpfen ins Wasser eingetaucht.
September 1992, Auensfeld
Mir ist schwindlig, laute Musik dröhnt wummernd von der Tanzfläche. Wie immer ist der Schlossbergkeller total überfüllt und ich werde von der tobenden Masse nach rechts und links geschubst. Außerdem ist es viel zu heiß. Ich vermisse Erik.
Er ist noch beim Kellnern in der Pizzeria „Da Giovanni“. Das macht er jetzt schon seit er sein Abitur hat. In ein paar Tagen muss er zur Grundausbildung nach Roth … Er hat tatsächlich alle Eignungstests für die fliegerische Laufbahn der Luftwaffe bestanden. Er wird wirklich Soldat! Ein seltsamer Gedanke. Erik in Uniform …
Die ersten Klänge von „Losing My Religion“ von R.E.M. ertönen und alle strömen zur Tanzfläche. Diese Band ist gerade total angesagt, ein völlig neuer Sound. Ich lasse mich mitreißen und meine langen Haare fallen mir ins Gesicht, während ich mich zur Musik bewege. Bille tanzt auch mit. Meine und Bille’ s Jackcola stelle ich vor der Box beim DJ ab. Eigentlich mag ich keinen Jack Daniel’ s, ich mag überhaupt keinen Whiskey. Aber alle trinken ihn. Von hinten schlingen sich zwei Arme um mich. Kräftige Arme und ich spüre warmen Atem in meinem Nacken. Ein prickelndes, angenehmes Gefühl, wunderbar. Ich drehe mich um. Es ist Robert, mein Klassenkamerad. Lachend schubse ich ihn zur Seite. Also, wirklich! „Such dir jemand anderen“, schimpfe ich ihn.
„Schade, ich wollte aber dich.“ Schmollend zieht er weiter und wirft mir einen Luftkuss zu.
„Mensch Becca, lass uns weiter tanzen. So richtig wild!“, ruft Bille kichernd, „gerade läuft ‚Jump’ von Kris Kross.“ Wir lachen, tanzen, springen und grölen den Text mit.
Plötzlich sehe ich ihn: Erik. Sein Blick ist finster. Er nimmt meine Hand, zerrt mich von der Tanzfläche weg und bahnt uns einen Weg nach draußen. Er drückt bestimmend Leute zur Seite, nickt Bekannten kurz zu und winkt Einladungen an die Bar unwirsch ab. Er blickt einfach geradeaus und zieht mich immer weiter. Er sagt nichts. Einfach nichts. Ich fühle mich elend und schuldig, dabei habe ich doch nichts getan! Ich habe nur getanzt und … ein wenig getrunken. Erik war häufig auf Partys viel betrunkener gewesen als ich. Wer ist er? Mein großer Bruder?
„Was ist los mit dir? Was soll das?“, frage ich, als wir schon fast an seinem Auto sind.
„Wir fahren nach Hause, ganz einfach!“
„Ich glaube, du hast da was falsch verstanden!“, verteidige ich mich und versuche