Die Stufen waren steil und glatt, er half Veland darauf. Prompt rutschte sein Bruder aus, Darcar zog ihn an seiner Hand auf die Beine und setzte ihn wieder auf die Stufe. Er hielt ihn fest und trug ihn die restlichen Stufen hoch.
Im Inneren des Wagons war es dunkel, die Fenster saßen sehr hoch, sodass man nicht hinaussehen konnte. Eiserne Sitzbänke, eine Zelle am Ende, blanke Haltestangen. Der Frost hatte sich hineingeschlichen und die Sitzmöglichkeiten wie weißer Schimmel überzogen.
Darcar wickelte Veland den Schal ab, klopfte eine Bank damit ab und legte ihn dann so aus, dass Veland sich darauf setzten konnte, ohne krank zu werden.
»Und auf was sitzt du?«, fragte sein Bruder.
»Auf meinem Hintern, der ist fett genug«, versuchte er sich an einem Scherz. Und tatsächlich lächelte Veland kurz auf, als Darcar sich zu ihm setzte.
Vic und seine zwei Begleiter verzichteten darauf, sie anzuketten, obwohl eiserne Manschetten zu ihren Füßen lagen. Veland entdeckte sie und wurde auf einmal ganz still und steif. Grummelnd streckte Darcar einen Fuß aus und schob die Ketten unter die Bank, damit sein Bruder sie nicht mehr sah. »Komm her«, sagte er dann und zog den Kleinen in seine Arme, hielt ihn fest und wärmte ihn – und auch sich.
Der Zug setzte sich ratternd in Bewegung, ein lauter Pfiff ertönte und dröhnte über die Waggonwände, die Dampfbetriebenen Maschinen arbeiteten lautstark, sodass man ihren gewaltigen Kraftaufwand durch leichte Erschütterungen spürte.
»Wann wird Vater uns holen kommen?«, fragte Veland verängstigt. »Ich will nach Hause.«
Er hatte es noch nicht verstanden. Es brach Darcar das Herz, er konnte kaum atmen. Sein Blick begegnete Vics betroffenem Gesicht, sein Magen zog sich zusammen. Was sollte er bloß tun? Wie sollte er seinem kleinen Bruder erklären, dass sie kein Zuhause mehr hatten?
Statt zu antworten, zog er Veland wieder eng an sich, nahm dessen Finger zwischen seine Hände und rieb sie, bis sie auftauten, führte sie zu seinem Mund und hauchte hinein.
Veland fragte nicht weiter nach, vermutlich kannte er die Wahrheit und wollte sie gar nicht wirklich hören. Der Kleine lehnte den Kopf an die Schulter seines Bruders und ließ mit großen, kindlichen Augen den Blick durch den Waggon schweifen. All das, diese kalte, kahle Dunkelheit, die Zelle, die Uniformierten, die Gitter, mussten ihn furchtbar ängstigen, doch er zitterte nicht einmal, hielt sich nur an Darcar fest, als könnte dieser ihn vor allem Unheil bewahren.
Doch Darcar wusste nun mehr denn je, dass er das nicht konnte. Dass er genau genommen absolut machtlos war und er nichts hätte unternehmen können, wenn man ihm Veland entreißen wollen würde.
Er konnte rein gar nichts bewirken. Dieses Gefühl – diese Gewissheit – zerschlug ihn innerlich.
»Du tust mir weh«, flüsterte Veland ihm zu, sein Atem streifte Darcars Hals und wärmte ihn für einen winzigen, süßen Moment. Verwundert sah er seinen Bruder an, dessen whiskyfarbene Augen wässrig in seine blickten. Erst da bemerkte er, dass er die kleinen Finger seines Bruders vor Wut zerquetschte. Sofort ließ er locker.
»Tut mir leid«, hauchte er reuevoll und legte Velands Hände stattdessen unter seinem Mantel auf seine Brust, um sie warm zu halten. Sein Bruder kuschelte sich wieder an.
*~*~*
Phillin Burg war groß, erstreckte sich über mehrere Hügel und Ebenen, die Häuser reihten sich eng aneinander, ließen selten Platz für Gässchen. Die Stadt lag an einer Bucht, geformt wie ein Sichelmond. An den vielen Stegen, die hinaus auf das schwarze Wasser des Obsidian Meeres führten, legten täglich unzählige Dampfschiffe unterschiedlicher Größe und Form an, ihre dichten Wolken schienen den Himmel über dem Gewässer zu verdunkeln, wobei über der Stadt meistens ohnehin eine dicke Wolkendecke hing, die Sonne war so selten, dass man sie hier für einen Mythos hielt. Wenn es nicht regnete, schneite es.
Es gab das Bahnhofs- und Geschäftsviertel, das mittig und gehoben lag, dort wurde die Stadt durch die Bahnschienen einmal geteilt. Wer unterhalb wohnte, gehörte zu den Arbeitern, Menschen, die gerade so über die Runden kamen, dort waren die Straßen nicht gepflastert und wurden häufig zu einem dreckigen Sumpf. Oberhalb der Schienen spielte sich das elitäre Leben der Elite ab, wo die Straßen breit, gepflastert und gesäubert waren, sogar Bäume in Reih und Glied eingepflanzt waren, um die Straßen zu teilen. Wer es dann noch auf den Südhügel schaffte, wohnte meistens in einer riesigen Villa, war stadtbekannt und angesehen – oder gefürchtet. Es heißt, dort oben fließe pures Gold aus dem Berg, und bis es unten ankäme, wäre daraus Blut geworden. Während unten die Bewohner dreckiges Wasser abkochten, schlürfte man oben Champagner und aß Kaviar.
Darcar hatte bis zu diesem Moment zu den oberen zehntausend gehört. Er war nie herablassend gewesen und sein Vater hatte ihm beigebracht, dass man für seinen Lohn schwer arbeiten musste – dass nichts selbstverständlich war, auch wenn man in eine reiche Familie geboren wurde. Aber nun, da er all das verloren hatte, fühlte er sich ängstlich gegenüber dem Unbekannten, das ihn auf der anderen Seite der Stadt erwartete.
Das Elendsviertel war ein Stadtteil, der einst durch ein Feuer fast gänzlich niedergebrannt war. Die Flammen hatten sich wie Dämonen von einem Dach auf das andere geschwungen und sich die Häuser einverleibt. Da so viele Menschen betroffen gewesen waren und es kaum Hilfe gegeben hatte, um alle zu retten, hatte man eine Mauer um bestimmte Teile der Ruinen gezogen und es zu einem Ort der Verbannten erklärt. Oft kursierte dort die Seuche, als ob dieser Ort den Tod magisch anzog. Das Viertel lag nicht am Hafen, es erstreckte sich im Norden, mittig in der Stadt, und wurde auf den neuen Karten als schwarzes Loch angezeigt, als wäre ein Meteor an dieser Stelle eingeschlagen.
Der Zug fuhr oft an der Mauer und den Gittertoren, die diesen Ort abschirmten, vorüber. Darcar hatte ihn durch die Fenster ein ums andere Mal gesehen. Doch viel war dort nicht, meist nur halb eingestürzte, geschwärzte Häuser. Der Zug fuhr quer durch das Elendsviertel, dort gab es Zelte in den Gassen, Straßenkinder mit schmutzigen Gesichtern und mager. Manchmal versuchte jemand, den Zug zu überfallen, aber es gab bewaffnete Wachen in den Waggons, die Verbrecher mittlerweile abhielten. Tatsächlich besaß dieser Ort so etwas wie einen Bahnhof, denn Leute aus der Stadt kamen trotzdem hier her.
Um die Manege zu besuchen.
Die Manege. Darcar kannte diesen unerhörten Ort nur aus der Ferne, aber die Gerüchte sprachen für sich. Ein verbrannter Stadtteil, den die Bewohner komplett mit Zirkusplanen verkleidet hatten. Rotweiß und schmutzig leuchtete das Zelt in der Ferne. Es hieß, dort gingen viele angesehen Männer hin, um sich mit ruchlosen Mädchen oder Lustknaben zu vergnügen. Dort spielte sich ein morbides Nachtleben ab, Dekadenz sickerte aus jeder Pore. Leichte Mädchen, leichte Jungen, anzügliches Theater, gefährliche Vorführungen, wilde Tiere, vulgäre Lieder. Sein Vater hatte die Manege verachtet, er war der festen Überzeugung gewesen, dass ein rechtschaffender Mann nicht das Elend dieser Menschen ausnutzen sollte. Darcar hatte einst eine Diskussion zwischen seinem Vater und dessen jüngeren Geschäftspartner Kenneth mit angehört, als sein Vater eben jene Worte, an die Darcar gerade dachte, auch zu diesem gesagt hatte, und Kenneth entgegnete: »Wenn niemand mehr dorthin geht, alter Mann, wie sollen diese Menschen dann überleben? Ohne Kundschaft gibt’s kein Geld, ohne Geld kein Essen.«
Sein Vater war stur geblieben, er verachtete diesen Ort und all die Menschen, die dort freiwillig blieben und auf diese unrühmliche Art ihr Brot verdienten.
Was er wohl jetzt dazu sagen würde, wüsste er, dass Vic sie genau dort unterbringen wollte, um sie vor dem Rattenloch – dem Herz des Elendsviertels – zu bewahren.
*~*~*
»Nein«, weigerte sich Darcar, noch bevor sie hineintraten. Die Straßen waren eng und trotz der Ruinen dunkel. Alles wirkte einen Hauch grauer und kälter, der Nebel kroch wie ein schwebender Teppich über den gepflasterten Boden. Alles hatte den Anschein, als würde es in der