»Mutter hat ihm immer vorgelesen. Uns beiden.« Darcar senkte den Blick auf seine Fußspitzen, schluckte vernehmbar einen Kloß im Hals runter.
»Ist sie tot?«, fragte Elmer geradeheraus.
Darcar nickte. »Sie starb im Bett, vor ein paar Jahren, am Fieber, ist nicht mehr aufgewacht.« Warum er das erzählte, wusste er nicht, es war seine Art, sich zu entschuldigen.
Sie schwiegen einen Moment, beobachteten beide Veland, während sie selbst nur untätig im Raum standen. Keiner traute sich, sich zu rühren.
Bis Elmer sich schließlich mit einem Einatmen rührte und sie locker fragte: »Was haltet ihr davon, heute endlich mal zu baden?«
Veland hielt mit zwei Büchern in den Händen inne und blickte Elmer über die Schulter an. Auch Darcar fuhr zu ihrem Gastgeber herum.
»Ich hab den Regen aufgefangen, das Wetter ist echt ein Traum!«, Elmer deutete nach draußen, »Und es sind schon genug Fässer voll, um eine Wanne zu füllen. Was haltet ihr davon?« Er sah Darcar an. »Besonders du könntest ein heißes Bad gut vertragen, der feuchtwarme Dampf wird deiner Lunge guttun.«
Tatsächlich hielt sich der Husten vor allem nachts hartnäckig. Darcar sah zu V und hob die Augenbrauen hoch. »Was meinst du?«
Veland nickte eifrig, doch dabei sah er zwischen ihnen argwöhnend hin und her, als wollte er sich lieber nicht von seinen Büchern lösen.
Elmer bemerkte seinen Blick und lachte. »Keine Sorge, schau du ruhig weiter die Kiste durch, ich bereite das Bad vor, ja? Darcar?«
»Hm?« Er drehte sich wieder zu Elmer um.
»Kannst du in der Küche Holz in den Ofen legen? Mach ihn richtig schön heiß, ja?« Elmer öffnete wieder die Tür, sofort wurde es feuchter im Inneren. »Ich hole die Wanne, dann das Wasser, um es zu erhitzen.«
Darcar nickte und ging in die Küche, froh darüber, etwas zu tun zu haben. Er hatte schon unzählige Male für Magda den Ofen angeheizt, er konnte das beinahe blind. Und für eine Weile war er abgelenkt von all seinen Gedanken und inneren Plänen.
*~*~*
Nachdem er sich um das Feuer gekümmert hatte, saß er mit einem Becher Kräutertee auf der Treppe und lauschte dem Regen. Das Geräusch entspannte ihn, wirkte irgendwie tröstend. Die Tür stand offen, Wasser tropfte wie ein Vorhang vom Vordach, sodass er sich im Haus eingeschlossen aber nicht eingesperrt vorkam. Im Laden standen überall Kerzen, die warmes Licht spendeten, Veland saß in einem alten Sessel hinter dem Tresen und hatte sich die Laterne geschnappt, um in deren kräftigem Schein lesen zu können. Er war völlig versunken. Elmer ging ein paar Mal raus und rein, um einen großen Suppenkessel mit Wasser zu füllen. Wenn er das schwere Gefäß wieder hereintrug, waren seine Arme enorm angespannt, seine Muskeln beinahe bis auf das Doppelte gewachsen. Darcar nippte an seinem Tee und betrachtete immer wieder besonders intensiv Elmers Arme. Dessen ganzer Leib war schlank, aber stark, das fand Darcar ziemlich toll.
Gleichwohl wusste er, dass er mal wieder mit dem Feuer spielte. Er versuchte, nicht zu offensichtlich hinzusehen, senkte immer wieder mit mahlenden Kiefern den Blick. Dass er manchmal zu deutlich andere Jungen anstarrte hatte ihm in der Schule ständig Probleme eingebracht. Dass er zudem ein Hitzkopf war, der sofort auf jede Provokation einging, hatte es natürlich nicht besser gemacht.
Dabei war er eigentlich immer beliebt gewesen, als Stammhalter des Bahnbarons wollten alle seine Freunde sein. Doch Geld regelte nun mal nicht alle Dinge. Später, als seine Freunde dann Fräulein Agathas – ihre Lehrerin – Dekolleté begafft und ständig darüber geredet hatten, wurde alles anders. Denn es wurde sehr schnell sichtbar, dass Darcar ihre neuen Interessen nicht teilte. Und er hatte zuerst nicht verstanden, warum er ihnen etwas hätte vormachen sollen. Zu spät war ihm bewusst geworden, dass seine angeblichen Freunde ihn nur unter gewissen Bedingungen akzeptierten. Er hätte noch so reich sein können, als er nicht auf die Brust ihrer Kalligrafie Lehrerin gesabbert und gewichst hatte, gehörte er nicht mehr dazu. War abnormal. War widerwärtig.
»Hast du mich etwa angegafft, van Brick? Hm? Gefällt dir das besser? Du widerlicher Perverser!«
In ihrer Nachbarschaft lebte ein Paar, ein Arzt und ein Anwalt, beide arbeiteten für seinen Vater. Sie hatten ihn verstanden, als sie zum zehnten Mal seine Platzwunden versorgt und auf Bitten seines Vaters hin nachgeforscht hatten, was auf einmal in der Schule los war. Kinder konnten grausam sein, sagten sie zu ihm, aber später würde es auch nicht viel besser werden. Sie hatten gelacht, wollten ihn aufmuntern. Er war nur wütend.
War es immer noch.
Er konnte einfach nicht verstehen, warum es so gekommen war, wie es kam. Warum man ihn plötzlich mied, anders behandelte, sich vor ihm ekelte. Er hatte sich nicht verändert, im Gegenteil, alle anderen hatten sich verändert, plötzlich waren Mädchen nicht mehr doof und alles drehte sich um heimliches Gefummel auf irgendwelchen Banketten. Darcar war irgendwie stehen geblieben, hatte sich zwar für Jungs interessiert, aber es gab immer Dinge, die wichtiger waren. Gleichwohl er hin und wieder verliebt gewesen war, flüchtig, zaghaft, immer nur ein Sehnen aus der Ferne. Vielleicht, weil seine Mutter in der Zeit, als sich alle um ihn herum veränderten, im Bett gelegen, um ihr Leben gekämpft und den Kampf schließlich verloren hatte.
Vielleicht, weil er wirklich anders war, kein Tier, kein Schwein, das auf dem Schulhof mit Errungenschaften prahlte und die Ehre einer jungen Dame damit befleckte. Er glaubte ohnehin, dass die Hälfte davon gelogen war. Einer seiner Klassenkameraden hatte behauptet, ein Mädchen aus dem Internat direkt nebenan verführt zu haben. Das Gerücht ging durch die Stadt, das Mädchen hatte sofort einen Ruf als Flittchen weg, bis ihr Vater den Jungen bei einer Stadtversammlung vorgeführt und eingeschüchtert hatte, woraufhin dieser zugab, gelogen zu haben. Trotzdem hatte das Mädchen fortan diesen gewissen Ruf, leicht zu haben zu sein. Und Darcar verstand bis heute nicht, warum nur sie eine Hure sein soll, wenn doch auch der Junge angeblich mit ihr geschlafen hatte. Mädchen durften nicht vor der Ehe befleckt werden, dann wären sie unrein, aber für Jungen konnte es nicht früh genug passieren, dann waren sie die Helden der Stadt.
Er verstand es nicht, nichts davon. Warum bis zur Ehe warten? Warum galt das nur für Mädchen?
Aber genau diese Einstellung hatte ihm noch mehr Hass eingebracht. »Was weiß eine Schwuchtel schon davon?«
Schwuchtel. Darcar hatte das Wort nicht gekannt. Sein Vater sagte, es sei ein niveauloses Wort, das nur von geistlosen Menschen genutzt wurde. Von Raufbolden und Taugenichtsen.
Tja, die Kinder der Elite dieser Stadt hatten Darcar tagtäglich mit diesem Wort beschimpft. So viel zur Elite…
Sein Vater hatte mit ihm nie direkt darüber gesprochen, er schämte sich aber auch nicht für ihn, das zeigte er durch Taten. Darcar hatte ihn jedoch ausdrücklich gebeten – das heißt, ihm eines Abends mit wütendem Gebrüll das Versprechen abgenommen – sich nicht einzumischen. Es war seine Angelegenheit und er schämte sich, wenn sein Vater seine Kämpfe für ihn austragen musste. Er hatte vorgehabt, es durchzustehen. Und ihnen gezeigt, immer wieder aufs Neue, dass er sehr wohl männlich war. Zumindest männlich genug, ihnen die Visagen zu polieren. Es war anstrengend gewesen und Darcar war oft verzweifelt, aber wann immer er traurig in seinem Zimmer gesessen hatte, gerade erst die Mutter verloren und von allen anderen verachtet, war Veland zu ihm gekommen, hatte ihn gekuschelt und ihm einen Schmatzer gegeben, um ihm zu zeigen, dass er ihn nicht widerwärtig fand. Seitdem waren sie nicht nur Brüder, sondern auch beste Freunde. Irgendetwas verband sie, mehr als es sie mit ihrem Vater oder Evi verbunden hatte. Vielleicht war es schlichtes, stummes Verständnis.
Und vielleicht, dachte Darcar nun in Elmers Laden, hatte ihre Verbannung nicht nur schlechte Seiten. Immerhin war er jetzt nicht mehr das Gespräch der Stadt und musste sich dem Hass seiner Mitschüler nicht mehr aussetzen. Na ja, vielleicht war er doch noch Stadtgespräch, aber nun aus völlig anderen Gründen. Gründen, die andere noch bereuen würden, sobald er wusste, wie.
Er