Morven nickte. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nehmen wir viertens an, dass Mrs Harrington wie immer akribisch den Materialverbrauch, dessen Kosten und die Registriernummern der verwendeten Edelsteine dokumentiert hat.« Er deutete auf die Ausdrucke der MacDonald-Aufträge. »Und nehmen wir ferner an, der Mörder hat sie erst umgebracht, nachdem sie ihm eine Rechnung übergeben hat.« Er blickte Morven bedeutsam an. »Wenn er sie getötet hat, bevor er sie beglichen hat – wovon wir wohl getrost ausgehen können –, dann hat er dadurch den Nachweis, dass er der rechtmäßige Eigentümer des Schmuckstücks ist. Mit anderen Worten: Er kann es jederzeit ganz legal verkaufen. Nachdem er seine Spuren in Mrs Harringtons System getilgt hat, kann man ihn nicht mit dem Mord in Verbindung bringen. Er hat praktisch ein gestohlenes Schmuckstück, von dem niemand weiß oder nachweisen kann, dass er es gestohlen hat, und kann es für Tausende von Pfund verkaufen.«
Morven überdachte das. »Der Knackpunkt ist aber seine falsche Identität. Die hypothetische Rechnung lautet auf John MacDonald. Wenn das nicht sein richtiger Name sein sollte …«
»Aber was, wenn es sein richtiger Name ist? Wie die Hexe – ich meine Ms Brady schon gesagt hat: MacDonald ist der größte Clan des Landes und John wahrlich kein seltener Vorname. Es dürfte alles in allem landesweit mindestens hundert John MacDonalds geben. Wenn er klug ist, wohnt er nicht mal in Edinburgh, sondern ist für den Coup extra angereist.« Durie nickte. »Und schon haben wir ein Szenario, das einen perfekten Sinn ergibt.« Er zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise gehört er zu einer Bande, die das gewerbsmäßig macht oder er brauchte einfach nur viel Geld.« Er seufzte. »Und Sie wissen ja: Ohne einen konkreten Anfangsverdacht haben wir keine Handhabe, eine Wohnung auf die Vermutung hin zu durchsuchen, dass bei einem der zig John MacDonalds eine Rechnung nebst Schmuckstück von Harrington’s Fine Jewellery zu finden sein könnte.«
Morven nickte. »Und wenn er klug ist, bewahrt er beides sowieso nicht zu Hause auf.« Sie schüttelte den Kopf. »Falls Ms Gall tatsächlich herausfinden kann, welches Material verbraucht wurde, kann sie vielleicht auch Rückschlüsse daraus ziehen, um was für ein Schmuckstück es sich handelt. Dann wissen wir wenigstens, wonach wir bei potenziellen Verdächtigen Ausschau halten müssen.«
Durie schnitt eine Grimasse. »Wenn wir denn überhaupt erst mal einen vernünftigen Verdächtigen hätten«, brachte er das Hauptproblem auf den Punkt. »Nachdem Mister Eifersucht leider nicht der Täter ist, fehlen uns bislang alle Anhaltspunkte, wo wir suchen müssen.«
Da hatte er Recht. Morven hoffte, dass die gegenwärtig laufende Haus-zu-Haus-Befragung in der Nachbarschaft der Harringtons und des Geschäfts eine neue Spur lieferte. Wenn nicht …
***
Morven las sich die Liste, die Fiona Gall zusammengestellt hatte, zum dritten Mal durch und fühlte sich enttäuscht. »Und Sie sind sich wirklich sicher, dass das alles ist?«, vergewisserte sie sich zum wiederholten Mal.
»Ja.« Fiona Gall nickte. In ihrer Stimme lag ein deutlicher genervter Unterton. »Es tut mir leid, aber das sind die einzigen Materialien, die in den letzten Monaten verbraucht wurden. Wie ich Ihnen hier aufgeschrieben habe, sind die wertvollen Steine davon ausnahmslos diesen Kundinnen und Kunden zuzuordnen.« Sie deutete auf eine Spalte des obersten Blattes. »Falls Mrs Harrington nicht vergessen hat, etwas zu notieren, was ihr meines Wissens noch nie passiert ist, dann kann sie für den Auftrag von Mr MacDonald nur Halbedelsteine verwendet haben.«
Und damit war die Theorie, dass der Mörder sich mit dem Verkauf des gestohlenen Schmuckstücks hatte bereichern wollen, vom Tisch.
»Wie viel wären diese Sachen denn wert?«, fragte Morven dennoch.
»Bei der Menge«, Fiona Gall wiegte den Kopf, »ein paar Hundert Pfund. Der Arbeitslohn kostet erheblich mehr als das ganze Material. Falls sie nicht doch noch an etwas anderem gearbeitet hat, dann hat Mrs Harrington seit der Auftragserteilung wochenlang fast den ganzen Tag an diesem einen Schmuckstück gearbeitet. Und sehen Sie hier«, sie deutete auf eine andere Spalte, »sie hat die Steine als Rohlinge oder Trommelsteine gekauft, musste sie also erst in die bestellte Form schleifen.«
»Was sind Trommelsteine?« Morven kam sich gänzlich unwissend vor, was sie hinsichtlich Edelsteinen tatsächlich war.
»Steine, die nicht per Hand geschliffen werden, sondern in einer Stahltrommel mit Schleifsand. Die Rotation der Trommel schleift die Steine dann glatt. So ähnlich wie Kieselsteine vom Wasser glatt geschliffen werden, nur in erheblich kürzerer Zeit. Weil Trommelsteine schon vorgeschliffen sind, spart das Zeit, weil man dann nur noch die bestellte Form herausschleifen muss und nicht einen ungeschliffenen Rohling komplett bearbeiten muss.«
»Was könnte man denn aus diesen Steinen machen?«, wollte Durie wissen.
Fiona Gall blickte nachdenklich auf die Liste. »Nahezu alles. Von der Menge her würde ich sagen, entweder eine aufwendige Halskette oder eine Kette mit einem dazu passenden Armband. Je nachdem, wie groß Mrs Harrington die einzelnen Steine geschliffen hat, können es auch zwei Ketten oder zwei Armbänder sein. Ein Diadem käme auch noch infrage, aber so was wird nur selten gekauft, weil es kaum noch jemand trägt. Außer in Adelskreisen, und die begnügen sich nicht mit halbedlem Schmuck. Obwohl Mrs Harrington den natürlich perfekt imitieren konnte. Sie ahnen nicht, wie oft sie Kopien von Prinzessin Dianas Verlobungsring anfertigen musste, die vom Original nicht zu unterscheiden waren.«
Die Bemerkung weckte Morvens Neugier. »Wie das?«
»Nun, diese Bergkristalle zum Beispiel kann man wie Brillanten schleifen, und dann sehen sie auch genauso aus. Was das Funkeln und die Lichtbrechung betrifft, die an Diamanten so faszinieren, so wird das nur durch den Schliff, die Facetten und ihre Anordnung zueinander erzeugt. Man kann sogar Glas so schleifen, dass es wie Brillanten aussieht oder in gefärbter Form wie Smaragde, Rubine und andere klare Steine. Granate und Rhodolite gehen als Rubine durch, und Fluorit oder Uwarowit mit Smaragdschliff sehen aus wie ein echter Smaragd, wenn die Farbe nicht zu hell ist. Und notfalls kann man mit Wärmebehandlung nachhelfen und einen Stein dadurch nach Wunsch einfärben. Nur die Farbe sollte mit denen der edlen Steine übereinstimmen, dann muss man die schon mit Spektralanalyse untersuchen, weil auf den ersten Blick der Unterschied nicht zu erkennen ist.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht kann sich Mr MacDonald echten Schmuck von diesem vermutlichen Umfang nicht leisten und hat deshalb einen aus Halbedelsteinen anfertigen lassen.«
»Möglicherweise«, stimmte Morven zu, obwohl sie daran nicht glaubte. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Mühe, Ms Gall. Sollten wir noch Fragen haben, melden wir uns.«
Sie begleitete Fiona Gall aus dem Gebäude und kehrte ins Büro zurück. Durie saß an seinem Tisch und studierte die Liste.
Er sah auf, als Morven eintrat. »Die Theorie mit dem Diebstahl zwecks Bereicherung und Mord zur Vertuschung können wir wohl vergessen«, stellte er bedauernd fest. »Aber die Möglichkeit, dass das Ganze nur der Vorbereitung zum Mord diente, vielleicht sogar Auftragsmord, erscheint mir immer wahrscheinlicher.«
Morven setzte sich, lehnte sich zurück und überdachte das. »Das scheint mir aber ein bisschen viel Aufwand, nur um einen Mord zu begehen. Dafür hätte der Täter sich kein Schmuckstück anfertigen lassen und die Spuren seiner Bestellung hinterher wieder löschen müssen. Er hätte einen Beratungstermin machen und den so spät legen können, dass Ms Gall schon weg ist, damit er freie Bahn hat. Oder Mrs Harrington abpassen, wenn sie auf dem Weg zu ihrem Wagen gewesen wäre, und hätte das Ganze als Überfall tarnen können.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir den Auftragsmord ausschließen können.«