Der andere könnte auch recht haben. Klaus Pinkas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Pinkas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991310402
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mit dem Ziel der jeweiligen Gemeinschaft befindet – in Europa ist es weitgehend Demokratie. Je nach dem Menschenbild der Religion fördert sie die Natur des Menschen, die sie für ursprünglich lebens- und gesellschaftstauglich hält; oder sie will ihn nach ihrem Menschenbild formen, weil sie seine Natur als dafür ungeeignet hält. In diesem zweiten Fall reicht Erweckung nicht, es braucht Erlösung.

      Die Entwicklung der Kinder ist abhängig vom Schutz durch die Eltern; das patriarchalische Denkmuster versucht, dieses Gefühl zu perpetuieren; und autoritäre Staaten erwarten von ihren Untertanen eine entsprechende Unterwerfung. Um dieses Gefühl zu erzeugen, dient oft Willkür. Idealtypisch halten sich die Bürger einer Demokratie ihren Staat als Organisationseinheit; die Rechtssicherheit ist dafür wichtig. Welches Gefühl ist wohl für Österreich vorherrschend? Ist das Selbstbewusstsein derivativ (abhängig) oder autonom (unabhängig)? Das sind Fragen, die für die Menschenführung relevant sind.

      Es gibt so viele glückliche Kinder und so viele grantige oder manchmal sogar bösartige Erwachsene. Was ist auf dem Weg passiert? Der Mensch kommt körperlich und geistig sehr unfertig auf die Welt und die Gefahr, durch Erziehung Schäden zu erleiden, ist durchaus gegeben. Wenn die Liebe der Eltern zu ihnen aber echt ist, halten die Kinder doch einiges aus. Das Glück der Kinder besteht darin, in ihrer Lebenswelt geschützt aufzuwachsen.

      Mit der Pubertät und den hormonellen Umstellungen müssen oder dürfen sie ihrer neuen Lebenswelt begegnen. Wenn sie Glück haben, können sie aber ihren inneren Freiraum erhalten – für manche ist das die Religion. Ein Yogi aus Indien nannte das so: „ich habe mir vorgenommen, mich in meinem Wesen nicht von den anderen stören zu lassen“. Aber das ist schon ein Schritt zur Weisheit.

      Den Kinderglauben aber kann man allerdings aufgeben, denn Gott tritt nicht an die Stelle der Eltern; mit dem Gewinn von Freiheit kommt die Verantwortlichkeit. Die christlichen Kirchen sehen das meist anders; für einen politischen Text scheint meine Erklärung allerdings relevanter zu sein.

      Es muss nicht darauf ankommen, sein Leben mit Abenteuern zu füllen, sondern es durch Intensivität zu bereichern – also achtsam durchs Leben zu gehen. Das Glück der alten Menschen ist, weise zu werden und zumindest die Erziehungs- und die weiteren Erlebnisschäden (etwa PTBS = posttraumatische Belastungsstörung) überwunden zu haben. Dann können sie auch beruhigt in den Tod oder in die Demenz gehen; sie werden dann auch weniger an ihrer Pflege leiden und auch weniger lästige Pflegefälle werden.

      Erfahrungsgemäß lösen sich diese Menschen leichter vom Leben, die weder sich selber noch den anderen gegenüber etwas schuldig geblieben sind. Wer satt ist, steht leichter vom Tisch auf als der, der noch hungrig ist. Problemfälle sind Kinder, die sterben wollen, und alte Menschen, die sich vor dem Tod fürchten.

      Ich halte die Beschäftigung mit den Religionen in Theorie und Praxis für sehr hilfreich, um zum eigenen Lebensglück zu kommen. Ohne die Erfahrungen vieler Generationen wäre es uns wahrscheinlich unmöglich, die Welt zu verstehen. Weisheit ist das Ergebnis der Wahrnehmung der äußeren Natur und seiner inneren Natur, also eine Wahrnehmung des Geschehens in seinem Gehirn. Ich verdanke der Tätigkeit als Ministrant in meiner Kindheit eine entsprechende Vorerfahrung für die Erlernung der Meditation in meiner Yoga-Schule in Indien.

      Der große Aufwand, den man treiben muss, um so weise zu werden, wie die als große Meister verehrten Yogis in Indien, ergibt sich aus der Erfahrung. Sie haben lange Meditationen hinter sich. Einem buddhistischen Mönch ist aufgefallen, dass – sieht man von einigen Ausnahmetalenten ab – für Spitzenleistungen in Kunst, Sport und Wissenschaft sowie in Spiritualität eine Praxiszeit von 15.000 Stunden notwendig ist.

      Für meinen Guru waren dreistündige Meditationen nichts Besonderes, für seine langen Meditationen – er erzählte von einer Zeit von bis zu 12 Tagen –, musste er sich allerdings besonders vorbereiten. In seiner Gegenwart brachte ich es auf einige einstündige Versenkungen; normalerweise bin ich über Zeiten von ein paar Minuten schon froh.

      Ein Meister geht in sein Unbewusstes wie der Hausherr in den Keller, dreht das Licht auf und sucht sich zusammen, was er gerade braucht. Gerade auch bei der Erstellung dieses Textes merke ich, dass ich ziemlich im Dunklen herumtappe und nur wie im Strahl einer Taschenlampe die brauchbaren Gedanken und die notwendigen Empfindungen zusammensuchen muss.

      Glücklich bin ich über ein Meditationserlebnis an der Südküste der Insel Kreta, das mich an eine Bibelstelle erinnert. Christus wurde vom Teufel aufgefordert, von einem Felsen zu springen; die Engel würden ihn sanft auffangen und ihn unversehrt zu Boden bringen. Wenn Leute dieses Erlebnis unter Einfluss von Drogen haben, springen sie oft tatsächlich.

      In der Meditation nimmt man wahr, dass das Schweregefühl ausgeschaltet ist und man diese Sondersituation genießt; ich bin auf dem Mauervorsprung der Ruine sitzen geblieben, obwohl ich das Gefühl hatte, ohne weiteres zu den am Strand spielenden Kindern hinunterschweben zu können. Auf der Schwelle, an der sich Stimmung zu Glauben verhärtet, ist ein Faktencheck geboten, weil Glauben handlungsrelevant werden kann.

      Das Gefühl der Schwerelosigkeit ist wie die Erinnerung an das Nicht-Sein auch eine Erfahrung des Nahtod-Spektrums und nimmt oder reduziert die Angst vor dem Tod. Seit ich um die Erfahrungsgemeinschaft weiß, nehme ich die Bruderschaft Christi, die er den Menschen bietet, gerne an. Die Erfahrung des Unbewussten unterscheidet sich durchaus von der gewöhnlichen Erfahrung; wenn man sich aber da öfter einfindet, wird sie einem vertraut und man kann religiöse Texte mit anderen Augen lesen.

      So erscheinen die Darstellungen des auferstandenen Christus in einem anderen Licht, etwa wie im Nebel, das deutet auf Meditationsbilder hin. Die Berichte über den auferstandenen Jesus enthalten meistens einen Hinweis auf eine metaphysische Dimension seiner Erscheinungen; er kommt etwa trotz verschlossener Türen in den Abendmahlsaal oder er verschwindet einfach aus der Gemeinschaft mit den zwei Jüngern in Emmaus.

      Die Deutung Christi als Inkarnation Gottes ist nach dem Religionsverständnis Indiens durchaus möglich; für viele Inder ist eine solche Deutung auch selbstverständlich. Nach dem Buddhismus erreichen die Menschen auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe die Buddha-Natur. Für die Christen, die die Gottesnatur eines Menschen für einmalig halten, ist ein Verständnis dafür schwierig, vielleicht sogar unmöglich. Als Anhänger einer Glaubenskultur sind ihnen nicht alle religiösen Interpretationsmöglichkeiten offen.

      4. Individuum und Gesellschaft

      Das Wechselspiel zwischen Individuum und Staat bzw. Reich zeigte und zeigt viele Möglichkeiten: es reicht von Diskriminierungen oder Überhöhungen Einzelner bis zu Überschätzung oder Verachtung des Gemeinwesens.

      Wahlsprüche und Hymnen versuchen auf mancherlei Art, das gesellschaftliche Selbstbewusstsein zu modellieren; und manchmal stimmen Volksmeinung und Selbstbeschreibung des Staates überein. Ob das eine das andere modelliert hat oder ob es umgekehrt ist, kann höchstens im Einzelfall festgestellt werden.

      Normalerweise sind Volks- und Staatsmythen natürlich großartig; manchmal ist es anders. So gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich eine Volkshymne, die den Zustand durch Persiflage – also durch schwarzen Humor – erträglich zu machen suchte: „Land der Erbsen, Land der Bohnen, Land der vier Besatzungszonen, Land der vielen, vielen Fremden, die uns ausziehen bis auf die Hemden …“ Notfallsprüche können in der jeweiligen Situation hilfreich sein; wenn sie bleiben, können sie aber auch negativ wirken. Bewusstsein und Sein sind interdependent.

      Mit der Wahl der aktuellen Bundeshymne hat Österreich gewiss Glück gehabt; sie spricht sowohl das Land als auch die Leute positiv an und verzichtet auf Präpotenz. Für den individuellen Bereich wirken nach verbreiteter Meinung gute Lebensziele positiv; ob es eine Analogie zu Staatszielen gibt, könnte nur eine Untersuchung ergeben. Wenn es so wäre, würde Serbien mit seiner Berufung auf die verlorene Schlacht am Amselfeld gegen die Osmanen (1389) ein schlechtes Motiv gewählt haben. Und auch die Hymne „noch ist Polen nicht verloren“ ist nicht gerade aufmunternd.

      Schwer nur zu ertragende Zustände kann man auch durch etwas überzogene Behauptungen verkraftbar machen; so kolportierte Hitler die Vorstellung, dass er und das vom Ersten Weltkrieg traumatisierte deutsche Volk von der Vorsehung ausersehen