Der andere könnte auch recht haben. Klaus Pinkas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Pinkas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991310402
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worden waren, wollten sich von der europäischen Adelsmafia befreien. Die Adelshäuser bildeten eine Art Obrigkeitsgemeinschaft im Interesse der gegenseitigen Stützung der Macht. Sie war eigentlich eine Friedensordnung, die allerdings die Führung kleinerer Kriege aus Konditions- und Disziplinierungsgründen nicht ausschloss. diese Strategie scheiterte allerdings mit dem Ersten Weltkrieg, indem die Herrscher ihre eigenen Interessen vernachlässigten und den Nationalismen der Völker hineinfielen.

      Die Idee des Nationalstaates, die der Demokratie entspricht und sich nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht hat, sollte die fortdauernde Praxis der Eroberungs- und Unterdrückungskriege ablösen; Hitler-Deutschland ist auf die Reichsidee zurückgefallen und auch anderswo ist der Versuch der Demokratisierung bisher noch nicht ganz gelungen. Eine Demokratie muss auf der Gesinnung der Bürger beruhen, aus der die Fähigkeit der Menschen, mit Pluralismus sinnvoll und möglichst erfolgreich umzugehen, folgen sollte. Auf dem Pol des Pluralismus einerseits, den die Demokratie vorgibt, und dem des Monismus, der der Reichsidee entspricht, und konkret im Raum dazwischen spielt sich de facto die Politik ab.

      In der Durchsetzung eines Willens ist die Demokratie schwächer, weil sie häufig über die Meinungsvielfalt stolpert; eine Diktatur ist durch eine Meinungsvielfalt jedenfalls weniger behindert. Die Neigung zu einer totalitären oder zu einer demokratischen Gesinnung wird schon in der frühen kindlichen Erziehung angelegt; der Wunsch nach und die Fähigkeit zur Demokratie stellt sich aber auch in formalen Demokratien nicht immer ein.

      Zitat aus Wikipedia: Erich Fromm (1900 bis 1980):

      „Der Mensch hat nicht nur physische, sondern auch psychische Grundbedürfnisse, die in seiner Existenz wurzeln.

      Hieraus ergibt sich, dass für die psychische Gesundheit des Menschen universelle Kriterien gelten, die vom gesellschaftlichen System entweder gefördert oder unterdrückt werden können. Zwar kann der Mensch tatsächlich unter vielerlei Bedingungen leben, doch wenn sie seiner menschlichen Natur zuwiderlaufen, reagiert er darauf, indem er die bestehenden Verhältnisse entweder ändert oder seinen vernunftbedingten menschlichen Fähigkeiten entsagt, also sozusagen abstumpft.“

      (Ende des Zitats)

      Die Demokratie sollte den materiellen wie immateriellen Bedürfnissen der Bürger in ihrer Eigenverantwortung entsprechen. Sie ist die beste, aber schwierigste Form des Zusammenlebens und ist auf eine möglichst optimale Erziehung der Bürger angewiesen. Das Kind lernt mit und von den Haupt- oder seinen Nebenerziehern seine Empfindungen bestenfalls genau zu interpretieren, sodass es im guten Fall als Erwachsener gelernt haben wird, seine Gedanken und seine Gefühle richtig zu interpretieren: Schmerz ist schmerzlich, Freude ist freudig etc. Abweichende Interpretation („ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – oder übertriebenes Bedauern wegen Kleinigkeiten) führen späterhin zur Verwirrung.

      Wenn die Mutter die Empfindungen des Kindes (Schmerz, Ärger, Hunger, Freude usw.) trifft und gut anspricht, so hat das Kind einen Startvorteil fürs Leben. Es ist immerhin erstaunlich, dass einem Kind bei der Erlernung seiner Kultur auch bei der Wahrnehmung und vor allem der Deutung der Gefühle geholfen werden muss, damit späterhin der Umgang mit den Gefühlen unter Einbindung der Rationalität vernünftig vollzogen werden kann.

      Das Kind hat einen Bedarf für eine kooperative Begleitung, die zu einer Demokratiefähigkeit führt; eine autoritäre Erziehung führt zur Diktatur, eine Laissez-faire-Erziehung führt zuerst zum Chaos und damit häufig letztlich auch zur Diktatur, weil Chaos noch schlimmer ist als diese. Die Art und die Stärke des Gestaltungsdrucks machen den Unterschied aus.

      So, wie sich die Demokratie im Wechselspiel von Familie zum Staat und wieder zur Familie reproduziert, tendiert auch die Diktatur dazu, sich zu erneuern. Weil das entsprechende Erziehungssystem nicht den Willen aller brechen kann und sie so zu Untertanen macht, so stehen die, an denen das nicht gelungen ist, dem System als potentielle Tyrannen zur Verfügung. Die Bereitschaft, Führung zu übernehmen, muss auch in der Demokratie vorhanden sein; Menschen, die eine Führungsrolle unbedingt anstreben, können aber auch eine Demokratie in eine Diktatur verwandeln. Demokratie ist eine kulturelle Leistung, die bei mangelhafter Achtsamkeit leicht durch eine Diktatur überwuchert werden kann.

      Bei einer mangelhaften Entwicklung der Sensibilität und der Deutung dieser Fähigkeit kann etwa der Psychoanalytiker dieses emotionale Dilemma mit der Frage „Wie geht es Ihnen wirklich?“ zu korrigieren suchen; um die Seele gesund zu machen, hat die Beichte Konkurrenz bekommen. Auch die Literatur mit ihren Empfindungsmustern hilft dem Erwachsenen, seine Gefühlswelt in Ordnung zu bringen und damit eine Verbesserung seiner Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit einzuleiten. Dazu gehört die Wahrnehmung der Gefühle der Mitmenschen als Empathie und deren richtige Deutung als soziale Intelligenz.

      Ein häufiger Fehler besteht darin, dass sich die Menschen oft eher als Beobachter der Umwelt und nicht als Mitspieler fühlen. Damit können sie sich der Verantwortung entziehen, können ihr aber auch nicht gerecht werden. In einem Stauraum vor einer Engstelle in einer Straße in Berlin fand sich einmal eine Tafel: „Schimpf nicht auf den Stau, du bist der Stau!“.

      Aufgrund der Einflussnahme in der frühen Kindheit wird die spätere Haltung geprägt; das zeigt sich auch in der Stressbewältigung. In einer unmenschlichen Umwelt kann sich der Mensch seine Überlebensfähigkeit durch Abstumpfung allenfalls besser erhalten; Abstumpfung entwickelt sich durch willkürliche, undurchschaubare Erziehung. In einer sensiblen menschlichen Umwelt wird sich der Mensch durch und der Gesellschaft mit Sensibilität leichter tun. In einer harten Gesellschaft ist Sensibilität gefährlich; aber auch in einer solchen ist sie gesellschaftlich nützlich, wenn sie auch schwerer aufrechtzuerhalten ist. Durchschaubarkeit der Erziehung führt zur Demokratie; und Rechtssicherheit ist ein konstituierender Faktor für die Demokratie. Wären die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg nicht so abgestumpft gewesen, hätten Sie den Krieg nicht so lange durchgehalten; wären hingegen ihre Offiziere von Anfang an sensibler gewesen, hätten sie den Deutschen und der Welt diesen Krieg ersparen können.

      Diktatur braucht Abstumpfung, Demokratie Sensibilität. Aus dieser These folgt auch die Erklärung der Tatsache, warum ein Ausstieg aus einer diktatorischen Gesellschaftsordnung und ein Umstieg in ein demokratisches System so schwierig sind und so langsam ablaufen. Eine Demokratie entsteht nicht nur durch eine Entscheidung, sondern vor allem durch die Bildung der psychischen Voraussetzungen, was mehrere Generationen dauern kann.

      Demokratisch gesinnte Führer werden versuchen, ein autoritär gebildetes Volk in eine Demokratie zu führen; ein solches Volk oder solche Bevölkerungsanteile aber werden einem autoritären Führer freiwillig hineinfallen. Dies zeigt die langsame Demokratisierung einiger osteuropäischer Staaten.

      In Österreich hat der Umbau von der Leibeigenschaft zur gelingenden Demokratie vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1945 gebraucht. Die erste Republik war nur formal demokratisch und nicht dem Geiste nach; der Kampf ums tägliche Brot entzweite die Bevölkerung.

      In Russland etwa besteht die Diktatur und die ihr zugehörige Abstumpfung nach wie vor als individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit; individuelle Bemühungen sind nicht wirksam geworden; Bemühungen von oben nach unten wie Glasnost und Perestroika gab es wenige. Selbst der Kommunismus, der von Marx als eine humanistische Idee gedacht war, wurde von Stalin im Geiste der Inquisition und des zaristischen Systems – also totalitär – durchgezogen. Stalin hat Marx so missbraucht wie die Inquisition die Christuslehre. Durch Abstumpfung lässt sich eine Herrschaft fürs erste erhalten; jedenfalls fördern Diktaturen nur selten die Entstehung von Demokratien, die auf Sensibilität angewiesen sind. Es bleibt zu hoffen, dass jene Staaten, die noch nicht so weit sind, nicht so lange für die Demokratisierung brauchen wie wir.

      Aber sind nun die aktuellen Demokratien sensibel genug, die anstehenden Probleme auf der Welt wahrzunehmen und stark genug, um sie zu lösen? Meine hier vertretene These, Demokratien würden demokratie-affine Bürger hervorbringen und Despotien autoritäts-affine Untertanen, halte ich für grundsätzlich richtig, wenn sich die Entwicklung in der Wirklichkeit auch nicht immer so ereignet. Es spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Eine traditionelle Demokratie wie die in Großbritannien fällt wegen des Mangels an Kooperationsfähigkeit im Fall des Brexit auf. Vielleicht kann man sich das so erklären, dass zu viele ihrer Abgeordneten durch eine emotionale Wohlstandsverwahrlosung