Die Wölfe von Pripyat. Cordula Simon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cordula Simon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701746774
Скачать книгу
Brauses Kinder

       52Die Schlacht um Pripyat

       53Radikale Punkte im Universum

       54Der Zufall der Gamula

       55Ein paar Klammern

       56Die Oase

       57Blut und Papier

       58Ein Feuerwerk

       59Zwei Reden

       60Technolomagie

       61Natürliche Süße

       62Drei Reden

       63Das Wetter im Untergrund

       64Browsetown

       65Die letzte Fahrt

       66Der Tag, an dem

       67Der Konsul

       68Die Wahl nach der Wahl

       69Halb Monster, halb Ei

       70Das Tal Pripyat und seine Toten

       71Das Licht

       72Kein Wort

       73Jackie

       74The downgraded human

      1Heracleum

       Im Jahr des Konsuls

      Da stehst du, nackt. Dein ganzer Körper, von behandschuhten Fäusten in ein Feld gestoßen. »Lauf, lauf, Häschen!«, rufen sie dir zu, und du rennst, rennst durch das Feld. Pflanzen streifen deine Finger, Blätter schlagen gegen deine Knie, peitschen dein Gesicht und der Mond leuchtet so grell, dass es wehtut. Die Luft ist kühl und schneidend. Die Moskitos ruhen bereits. Das Laub in den Bäumen rauscht gleichmäßig hinter den immer weiter entfernten Stimmen der Männer. Du rennst. Tiefe Atemzüge, immer wieder, bis du niedersinkst, dich erschöpft zurückschleifen lässt und wieder in dem dunklen Raum sitzt. Du kannst die Werbung noch im Kopf hören: Termin? Log it. Das sagte der Mann im Anzug auf dem Bildschirm.

      Die verbogenen Tore, das Fernsehen, die Nachrichten, Schlagstöcke und Zuckerstangen, und du sprachst von Asche und Sonne. Da sitzt du und wartest und grübelst, wann das alles begonnen hat. Du bist kein großes Licht, hast du damals gesagt. Du bist nur der Wettermensch. Du sagst, wie es wird. Dazu musstest du dich nicht einmal einschulen lassen. Keine Videoumschulungen mehr. Es genügte, dass du freundlich warst und man dich mochte. Kein Umlernen vor dem einen oder anderen Kanal. Auch kein Warten, dass die Maschine bald käme, damit du in Ruhestand gehen kannst. Eine Ersetzungsfeier. Bei wie vielen Ersetzungsfeiern du warst, kannst du gar nicht mehr sagen. Noch ein Glas Champagner darauf, nun tätigkeitsfern zu sein. Nichts zu müssen, alles zu dürfen. Die Maschinisierung feiern.

      Dann kam die Vulkanaschewolke und gleich darauf folgte der erste Anschlag. Und da standest du und sprachst von Asche und Sonne. Du bist kein großes Licht, hast du gesagt. Es ging um nichts. Nur um ein bisschen Mut. Seither hast du ein Auge verloren und eine Hand ist verkrüppelt. Du siehst aus wie der Affe, den niemand lausen mag, und das weißt du. Auch wenn dir in dem dunklen Raum niemand mehr einen Spiegel geben wird. Sind Sie Teil des Juste Milieu? hat man dich gefragt.

      Sind Sie ein Wolfkin? hat man dich gefragt. Tasks? Log it. Die Worte des Mädchens mit dem Irokesenschnitt.

      Aber man mochte dich. Man mochte dich. Man glaubte dir. Man filmte dich, überprüfte dich, kannte dich. Der Algorithmus wusste mehr über dich als du und doch: Man ließ dich das Wetter ansagen. Du solltest sie retten, ließ man dich wissen. Du solltest sie beruhigen. All die jungen Menschen mit gefordertem Sozialempfinden. Die sich von der Gruppe entfernen wollten. Die zu grübeln begannen, über denen die Paranoia hing wie eine Regenwolke. »Mit Regenwolken kennen Sie sich aus«, sagte man zu dir.

      »Warum signalisieren Sie Ihre Werte nicht?«, hat man dich gefragt. Die Wände des sozialen Netzes sind die Wände des Systems.

      »Meine Werte sind die gleichen wie bei allen anderen«, hast du geantwortet. »Sie beschämen mich«, hast du geantwortet.

      »Für eine offene Welt«, prangte auf der leuchtenden Werbefläche.

      Du hast nicht gewusst, dass man die jungen Menschen mit gefordertem Sozialempfinden mit als bedrohlich Diagnostizierten zusammensperrte. Die Betreuer waren allesamt Wiedereingegliederte. »Patient im Raum«, sagte man über dich, nicht zu dir. »In Zeit und Umweltsphäre richtig orientiert. Weitschweifig. Bemüht sich, gesund zu erscheinen. Frühere psychotische Zustände werden unkritisch betrachtet. Selbstüberschätzung, Messianismus, paranoide Interpretation neutraler Fakten. Einwände werden nicht hinterfragt.« Alles sei folgerichtig, aber dennoch falsch. Du hast dir nachts die Ohren mit Papier zugestopft, um das Geschrei nicht zu hören. Du hast dir die Augen nicht ausgekratzt und weißt nicht, wie du das geschafft hast. Kalorien? Log it. So sagt die freundliche Oma im Werbeclip.

      »Hätten Sie gerne, dass ich mich lösche?«, fragt der Mann weiter. Du schüttelst artig den Kopf und er legt ein Bild vor dir auf den Tisch. Breitlappige, mehrfiedrige Laubblätter. Blüten aus Dolden und Döldchen. Weiße Kronblätter und kleine haarartige Dornen. »Kennen Sie das?«, fragt der Mann und du schüttelst den Kopf. »Es nennt sich Heracleum. Bärenklau. Wie Bärentatzen schlägt es tiefe Wunden, doch nicht durch Krallen, sondern durch den Saft, der phototoxisch reagiert. Trifft dieser Saft die Haut und trifft die Haut danach das Sonnenlicht, bilden sich unter unendlichem Schmerz gigantische Brandblasen auf der Haut, nässend und brennend«, sagt er. Und du sagst nichts. Du schweigst. Du weißt nicht, was er will. »Heute haben Sie dies im Mondlicht gesehen«, sagt er, und du bist so müde, dass dein Kopf mit dieser Information nichts anzufangen weiß. Er zieht eine kleine Taschenlampe aus einem schmalen, schwarzen Koffer hervor: »Dies ist eine UV-Lampe. In vier Stunden geht die Sonne auf. Dann ist das hier vorbei.« Er packt deinen Arm. Nicht den verkrüppelten, den anderen, und leuchtet über deinen kleinen Finger, und du spürst gar nichts, und dann ein Dröhnen und Krampfen bis in die Ohren, Schläfen, Stirn hinauf, das dir den Atem nimmt, viel stärker als die behandschuhte Faust, die deinen Lauf bremste. »Wenn diese Sonne aufgeht, geht sie dir nicht mehr unter«, sagt er, wiederholt es, als sei es ein Fluch. »Was haben Sie Ihrer Frau erzählt?«, fragt er wieder. Und was machst du? Was machst du jetzt? Redest du? Auf den Plakaten stand: Der Mensch ist die Summe seiner Gedanken.